2022
Die Einladung, unsere Mitmenschen zu lieben
Dezember 2022


Die Einladung, unsere Mitmenschen zu lieben

Wien (RHS): Bei all den bedeutenden Aussagen, die Jesus Christus seinen Aposteln im Laufe seines Erdenlebens hinterlassen hatte, war es nur natürlich, dass seine Jünger ihm irgendwann die Frage stellten: „Meister, welches Gebot … ist das wichtigste? Er antwortete[:] Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 22:36-40.)

Das war für die Menschen in dieser Zeit etwas ganz Neues, Unvorstellbares – in einer Zeit, da der Gedanke an Vergeltung im Mittelpunkt stand, mit anderen Worten: Wenn du mir etwas wegnimmst, nehme ich dir auch etwas weg, wenn du mich betrügst, betrüge ich dich ebenfalls, wenn du jemanden aus meiner Familie tötest, nehme ich Rache und so weiter. Jesus stellte dem einen ganz neuen Ansatz entgegen: die Liebe. Aus den eingangs genannten Worten des Herrn erkennen wir, dass es ohne Nächstenliebe eigentlich kein Weiterkommen im Evangelium gibt. Alle anderen Gebote leiten sich im Grunde von diesen ersten beiden Geboten ab – es ist nämlich nicht möglich, jemanden zu bestehlen, wenn man Nächstenliebe hat. Ebenso ist es nicht möglich, jemanden zu betrügen, schlechte Gedanken gegen jemanden zu hegen, neidisch, missgünstig, hochmütig, abweisend oder verleumderisch zu sein, wenn man Nächstenliebe im Herzen hat.

Diese Nächstenliebe ist, wie wir auch sagen, die reine Christusliebe. Niemand hat es so geschafft und wird es jemals so zustande bringen, seine Mitmenschen zu lieben, wie Jesus Christus. Als er auf Erden lebte, hatte er immer Geduld, war ein aufmerksamer Zuhörer, fand tröstende Worte, heilte Kranke, erweckte Tote, speiste Hungernde, umarmte Ausgestoßene, vergab Sündern und Unzähliges mehr. Er hat uns vorgelebt und gezeigt, wie wir uns verhalten sollen. Wir wissen, dass es uns nicht gelingt, so perfekt wie Jesus Christus zu handeln. Das Ziel ist, ihn uns als Vorbild zu nehmen und zu versuchen, ihm ähnlicher zu werden. Der Schritt, sein Leben für uns alle hinzugeben, ist der Höhepunkt seiner Liebe zu uns. Durch diese Handlung hat er den Tod überwunden und ermöglicht uns die Auferstehung. In Johannes 15:12,13 lesen wir: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“

Es ist relativ einfach, Menschen zu mögen, die uns sympathisch sind, mit denen wir keine Auseinandersetzungen haben, die uns nichts Schlechtes zuteilwerden lassen, die pflegeleicht sind oder angenehme Zeitgenossen. Solchen Mitmenschen helfen wir auch lieber, es fällt uns wesentlich leichter. Herausfordernder wird es dann, wenn das alles nicht so ist. Besonders wenig kommt uns der Gedanke an Nächstenliebe, wenn uns Menschen Schaden oder Leid zugefügt haben, in welcher Weise auch immer – im Berufsleben, in der Nachbarschaft, vor allem in Beziehungen. Christus hat in seiner Aufforderung, unseren „Nächsten“ zu lieben, nicht unterschieden in „Menschen, die wir mögen“ und „Menschen, die wir nicht mögen“. Auch nicht darin, ob wir eher den Menschen helfen sollen, die ihre Herausforderungen durch Schicksalsschläge erleiden, oder denen, die sie quasi durch ihr Verhalten und ihre Entscheidungen selbst verursacht haben.

Er weiß aber auch, dass wir mit Emotionen zu kämpfen haben, die uns manchmal im Wege stehen können. Er weiß, dass wir dazu neigen, andere zu bewerten und sie in Schubladen zu stecken, die wir nach ersten Eindrücken verwenden. Er ist auch in diesem Punkt geduldig mit uns und erkennt unsere Bemühungen an, wenn sie auch nicht immer sofort den Erfolg haben, den wir uns wünschen. Ich kann hier aus eigener Erfahrung sprechen, dass es sehr hilfreich ist, den Vater im Himmel im Gebet zu bitten, uns behilflich zu sein, negative Gefühle gegenüber einem anderen Menschen unter Kontrolle zu bringen.

Was braucht es also, damit uns Nächstenliebe gelingen kann? Wir brauchen vor allem Interesse an unseren Mitmenschen. Dadurch werden wir erst aufmerksam auf ihre eventuellen Bedürfnisse, Nöte und Herausforderungen. Eine Eigenart unserer Zeit ist unter anderem wachsende Gleichgültigkeit bis hin zur Abstumpfung. Das hat verschiedene Ursachen und führt letztlich dazu, dass vielen Menschen die Mitmenschen relativ gleichgültig werden, solange sie selbst alles haben, was ihnen wichtig erscheint.

Wir als Nachfolger Christi sollen Mitgefühl entwickeln, das zum Handeln führt. Das dürfen wir nicht missverstehen, es bedeutet nicht, das „Leid der ganzen Welt“ auf sich zu nehmen und die Probleme der anderen zu unseren eigenen zu machen. Vielmehr gehört dazu: zuhören, Interesse aufbringen und dieses nicht nur heucheln. Manchmal kann es ein Vorschlag sein, den wir einbringen, manchmal ist es eine Umarmung, die heilend und tröstend wirkt, und gemeinsames Schweigen angesichts mitunter unglaublicher Schicksale. Nächstenliebe kann auch bedeuten, Dinge zu überhören, Negatives nicht breitzutreten, Tratsch nicht weiterzugeben, beruhigend in Situationen einzuwirken, sich nicht an Gemeinheiten zu beteiligen – und seien sie noch so klein –, sowie auch dann zuzuhören, wenn man müde oder anderweitig beschäftigt ist, wenn man merkt, dass es für den anderen gerade sehr wichtig ist.

Wenn wir einmal nicht so recht wissen, wie wir einem Mitmenschen beistehen können, fragen wir am besten den Vater im Himmel im Gebet. Er kennt uns alle und weiß, was wir für andere tun können. Er wird uns dann eine entsprechende Antwort geben. Ganz wichtig ist es, festzustellen, dass es nicht immer riesige Taten sein müssen, die unserem Nächsten helfen. Es sind sehr häufig kleine, scheinbar unbedeutende Dinge, die einem Mitmenschen das Leben erleichtern können. Wir haben hier auch als Eltern eine wichtige Vorbildrolle, derer wir uns bewusst sein müssen.

Ich möchte an dieser Stelle kurz erzählen, wie meine Tochter und ich vor kurzem nach dem Einkauf am Parkplatz vom Einkaufszentrum gerade wieder weggefahren waren, als ich eine alte Dame und ihren Mann mit einem Einkaufswagen zu ihrem Auto gehen sah. Sie hatten einen Rollator gekauft, der in einem riesengroßen Paket war. Die beiden konnten das Paket unmöglich aus dem Einkaufswagen in ihren Kofferraum befördern, der Mann war sehr hinfällig und die Frau war einfach überfordert. Ich sah Miriam an und sagte ihr: „Ich glaube, die Frau wäre sehr froh, wenn du ihr beim Einladen helfen würdest.“ Sie stieg aus. Obwohl sie sonst eher schüchtern ist im Umgang mit fremden Menschen, ging sie schnurstracks zu dem Paar, ich sah sie reden, dann das Paket schnappen und gemeinsam mit der Dame einladen. Diese bedankte sich dann herzlich bei meiner Tochter und die älteren Herrschaften stiegen erleichtert in ihr Auto. Als Miriam sich wieder zu mir ins Auto gesetzt hatte, bemerkte ich auch an ihr, dass sie irgendwie strahlte. Es tut uns selbst nämlich auch sehr gut, wenn wir unseren Mitmenschen helfen, es ist „die größte Freude für die Seele“.

Wir lesen über diese Freude zum Beispiel im Buch Mormon in 1 Nephi 11:22,23, wo die Bedeutung des Baumes, den der Vater Nephis in seinem Traum gesehen hat, erklärt wird: „Und ich antwortete ihm, nämlich: Ja, das ist die Liebe Gottes, die sich überall den Menschenkindern ins Herz ergießt; darum ist sie das Begehrenswerteste von allem. Und er sprach zu mir, nämlich: Ja, und die größte Freude für die Seele.“

In vielen Schriftstellen finden sich Hinweise und Erläuterungen zur Nächstenliebe. Eine der bekanntesten ist das sogenannte „Hohelied der Liebe“ im ersten Korintherbrief in Kapitel 13, wo Paulus diese Art der Liebe ausführlich und sehr anrührend beschreibt.

Er kommt in dieser Erläuterung zu dem Schluss, dass uns all unser Wissen, unsere Spenden, unser Tun und Handeln vor dem Herrn überhaupt nichts nützen, wenn sie ohne Liebe geschehen, weil sie dann hohl, leer und bedeutungslos bleiben.

Ich möchte mein Zeugnis geben, dass der Vater im Himmel uns jeden Tag aufs Neue Gelegenheiten gibt, unsere Nächstenliebe unter Beweis zu stellen. Er weiß auch, dass wir nicht immer die gleiche Energie dafür haben, unseren Mitmenschen zu helfen, weil wir vielleicht selbst gerade einiges zu tragen haben und Belastungen ausgesetzt sind. Dennoch können wir gerade auch dann anderen beistehen und mehr tun, als wir denken. Wir erkennen daraus auch, dass unsere Probleme möglicherweise einen anderen Stellenwert bekommen und wir nicht die einzigen sind, die Hilfe benötigen. Wir erhalten durch unsere Taten für den Nächsten unsere Herzensbildung und dürfen innerlich auf verschiedene Weise wachsen. Es ist eine kostbare Gelegenheit, dem Vater im Himmel nach dem Vorbild Jesu näherzukommen.