„Kapitel 11: Nächstenliebe, die reine Christusliebe“, Lehren der Präsidenten der Kirche: Thomas S. Monson, 2020
„Kapitel 11“, Lehren: Thomas S. Monson
Kapitel 11
Nächstenliebe, die reine Christusliebe
Mögen wir doch allen Kindern Gottes unsere Liebe kundtun, ob sie zur Familie oder zum Freundeskreis gehören oder nur Bekanntschaften oder gar Wildfremde sind.
Aus dem Leben von Thomas S. Monson
Für Präsident Thomas S. Monson war die Nächstenliebe eine Lebenseinstellung. Elder Jeffrey R. Holland und andere haben beschrieben, wie er Liebe und Nächstenliebe zum Ausdruck brachte:
„Toms sanftes Herz und sein mitfühlendes Wesen machten ihm schon als Kind bewusst, dass es vielen Menschen in seinem Umfeld weniger gut ging als ihm. Er wollte nicht zulassen, dass die Familie eines Kindheitsfreundes zu Weihnachten Haferflocken aß (noch dazu in heißem Wasser statt in Milch eingeweicht), und schenkte ihr seine beiden geliebten Kaninchen. ,Es ist zwar kein Truthahn‘, sagte er mit einem Kloß im Hals, ,aber trotzdem ein köstliches Weihnachtsmahl.‘
Seine Kindheitserlebnisse waren offenbar Teil einer von Gott gelenkten Ausbildung, die Thomas Monson für den Rest seines Lebens für die Notlage der Armen feinfühlig gemacht hat. Als er später Bischof der Gemeinde 6/7 wurde – derselben Gemeinde, in der er geboren und aufgewachsen war –, zählte diese 1060 Mitglieder, darunter 85 Witwen, und hatte kirchenweit die größte Wohlfahrtslast zu tragen.
Manche werden wissen, dass der junge Bischof Monson zu Weihnachten immer eine ganze Woche Urlaub nahm, um alle 85 Witwen in seiner Gemeinde zu besuchen, aber kaum einer weiß, dass er in den ersten Jahren jeder Witwe ein … Huhn als Geschenk mitbrachte. Die Hühner hatte er selbst in seinem Geflügelstall gezüchtet und gemästet. …
,[Präsident Monson ist] der Held der Benachteiligten‘, [sagte] sein langjähriger Freund Wendell J. Ashton. … ‚Er ist wie eine Kiefer – der Wipfel ist hoch und ragt zum Himmel, aber die Äste laden weit aus und befinden sich nahe dem Boden, sodass sie jedem Schutz bieten, der Schutz braucht.‘
,Wahrscheinlich ist es wenigen bekannt, aber Bruder Monson ist der selbst ernannte Hauskaplan mehrerer Pflegeheime in der Stadt‘, [verriet] Elder Boyd K. Packer, der 15 Jahre lang im Kollegium der Zwölf Apostel neben Elder Monson saß. ,Er sucht sie auf, wann immer sein voller Terminkalender es gestattet, und manchmal sogar, wenn er eigentlich keine Zeit hat.‘
Ein wohlmeinender Bekannter bemerkte einmal Präsident Monson gegenüber, es sei doch zwecklos, die alten Leute zu besuchen und lange mit ihnen zu reden, da sie ja oft kein einziges Wort erwiderten. ,Sie könnten sich Ihre Zeit genauso gut sparen, Elder Monson. Diese Leute wissen doch gar nicht, wer Sie sind.‘
,Ob sie mich kennen oder nicht, darauf kommt es nicht an‘, erwiderte Thomas Monson entschlossen. ,Ich spreche nicht mit ihnen, weil sie mich kennen, sondern weil ich sie kenne.‘“1
Lehren von Thomas S. Monson
1
Wir sollen Liebe in Wort und Tat zum Ausdruck bringen
Wir können Gott nicht wahrhaft lieben, wenn wir unsere Weggefährten auf dieser irdischen Reise nicht ebenfalls lieben. Ebenso können wir unseren Nächsten nicht wahrhaft lieben, wenn wir nicht Gott lieben, unser aller Vater. Der Apostel Johannes sagt uns: „Dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.“ [1 Johannes 4:21.] Wir sind alle Geistkinder des himmlischen Vaters und daher Brüder und Schwestern. Wenn wir an diese Wahrheit denken, fällt es uns leichter, alle Kinder Gottes zu lieben.
Tatsächlich bildet die Liebe den Wesenskern des Evangeliums und Jesus Christus ist darin unser großes Vorbild. Sein Leben war ein Vermächtnis an Liebe. Die Kranken heilte er, die Niedergeschlagenen richtete er auf, die Sünder rettete er. Schließlich nahm ihm die wütende Menge das Leben. Dennoch erklingen vom Kalvarienberg seine Worte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ [Lukas 23:34] – ein krönender Ausdruck seines Mitgefühls und seiner Liebe im Erdenleben.
Es gibt viele Eigenschaften, die ein Ausdruck von Liebe sind – etwa Güte, Geduld, Selbstlosigkeit, Verständnis und Vergebungsbereitschaft. Bei all unseren Beziehungen tun diese und ähnliche Eigenschaften die Liebe kund, die wir im Herzen tragen.
Gewöhnlich zeigt sich unsere Liebe in unserem alltäglichen Umgang miteinander. Dabei ist unsere Fähigkeit, die Not eines anderen zu erkennen und ihm zu helfen, am wichtigsten. Mir hat schon immer die Aussage dieses kurzen Gedichts gefallen:
Des Nachts geweint hab ich,
weil so oft mir fehlte der Blick,
dass die Not eines anderen verborgen mir blieb.
Doch noch niemals bis heut,
hab ich je es bereut,
wenn gegeben ich zu viel Lieb.
[Unbekannter Verfasser, zitiert in: Richard L. Evans, „The Quality of Kindness“, Improvement Era, Mai 1960, Seite 340] …
Ich hoffe, dass wir jederzeit darauf bedacht sind, umsichtig und einfühlsam auf die Gedanken, Gefühle und Lebensumstände unserer Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Wir wollen nicht herablassend sein und herumkritisieren. Wir wollen viel lieber Mitgefühl haben und anderen gut zureden. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht durch Achtlosigkeit bei dem, was wir sagen oder tun, das Selbstvertrauen eines anderen zunichtemachen. …
Liebe lässt sich auf vielerlei Weise gut zeigen: indem man lächelt, winkt, etwas Nettes sagt, ein Kompliment macht. Andere Möglichkeiten sind etwas weniger offenkundig: Man zeigt Interesse an dem, was der andere tut, man lehrt freundlich und geduldig einen Grundsatz, man besucht jemanden, der krank ist oder nicht aus dem Haus kann. Diese Worte und Taten – und viele weitere – vermitteln Liebe. …
Mögen wir doch am heutigen Tage beginnen, allen Kindern Gottes unsere Liebe kundzutun, ob sie zur Familie oder zum Freundeskreis gehören oder nur Bekanntschaften oder gar Wildfremde sind. Lassen Sie uns jeden Morgen beschließen, allem, was geschehen mag, liebevoll und freundlich zu begegnen.
Nahezu unvorstellbar, meine Brüder und Schwestern, ist Gottes Liebe zu uns. Dank dieser Liebe sandte er seinen Sohn, der uns genug liebte, dass er sein Leben für uns gab, damit wir das ewige Leben erlangen können. In dem Maße, wie uns diese unvergleichliche Gabe bewusst wird, wird uns das Herz mit Liebe zu unserem ewigen Vater, zu unserem Heiland und zu allen Menschen erfüllt.2
Der Vater im Himmel liebt jede[n] Einzelne[n] von Ihnen. Diese Liebe wird nie vergehen. Sie wird nicht davon beeinflusst, wie Sie aussehen, was Sie besitzen oder wie viel Geld Sie auf dem Konto haben. Sie ändert sich nicht durch Ihre Talente und Fähigkeiten. Sie ist ganz einfach vorhanden. Sie ist für Sie da, wenn Sie traurig oder glücklich sind, ohne Mut oder voller Hoffnung. Die Liebe Gottes ist für Sie da, ob Sie diese Liebe nun zu verdienen meinen oder nicht. Sie ist ganz einfach immer vorhanden.3
2
Jesus Christus erwies anderen Nächstenliebe und fordert uns auf, genauso zu handeln
Ich muss oft an eine Wegstrecke denken, die durch ein Gleichnis Jesu berühmt geworden ist. Ich meine den Weg nach Jericho. Dank der Bibel kann die denkwürdige Begebenheit, die den Weg nach Jericho für alle Zeit berühmt gemacht hat, für uns lebendig werden. …
Jesus sagte: „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.
Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber.
Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid,
ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?
Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!“ [Lukas 10:30-37.]
Jeder von uns wird auf seiner Reise durchs Erdenleben seinen eigenen Weg nach Jericho entlanggehen. Was erleben Sie dort? Was erlebe ich dort? Übersehe ich denjenigen, der von Räubern überfallen wurde und meine Hilfe braucht? Übersehen Sie ihn? Bin ich derjenige, der den Verletzten sieht und seinen Hilferuf hört, aber einfach weitergeht? Sind Sie das? Oder bin ich derjenige, der sieht und hört, stehen bleibt und hilft? Sind Sie das?
Jesus hat uns die Losung genannt: „Geh und handle du genauso!“ [Lukas 10:37.] Wenn wir dieser Aufforderung Folge leisten, eröffnet sich uns der Ausblick auf eine Freude, die ihresgleichen sucht und noch nie übertroffen worden ist.
Der Weg nach Jericho mag allerdings nicht als solcher gekennzeichnet sein. Der Hilfsbedürftige macht sich auch vielleicht nicht bemerkbar, sodass wir ihn wahrnehmen können. Doch wenn wir dem Beispiel des barmherzigen Samariters folgen, befinden wir uns auf dem Weg zur Vollkommenheit.
Beachten Sie die vielen Beispiele, die der Meister uns gegeben hat: Da waren der Gelähmte am Teich Betesda, die Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, die Frau am Jakobsbrunnen, die Tochter des Jaïrus, Lazarus, der Bruder von Maria und Marta – alle in einer ähnlichen Lage wie der Verletzte auf dem Weg nach Jericho. Sie alle brauchten Hilfe.
Dem Gelähmten am Teich Betesda sagte Jesus: „Steh auf, nimm deine Liege und geh!“ (Johannes 5:8.) Die Sünderin forderte er auf: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Johannes 8:11.) Der Frau, die gekommen war, um Wasser zu schöpfen, bot er eine Quelle an, „deren Wasser ins ewige Leben fließt“ (Johannes 4:14). Der toten Tochter des Jaïrus gebot er: „Mädchen, ich sage dir, steh auf!“ (Markus 5:41.) Zu Lazarus, der schon im Grab lag, sprach er diese unvergesslichen Worte: „Lazarus, komm heraus!“ (Johannes 11:43.)
Manch einer mag die eindringliche Frage stellen: Diese Schilderungen beziehen sich auf den Erlöser der Welt. Kann es auch in meinem Leben, auf meinem Weg nach Jericho, ein so kostbares Erlebnis geben?
Die Antwort ist ein unmissverständliches Ja! Ich möchte dazu [ein Beispiel] erzählen.
Vor ein paar Jahren ist einer der gütigsten Menschen von höchster Wertschätzung, die je gelebt haben, von uns gegangen, um seinen ewigen Lohn zu empfangen: Sein Name war Louis C. Jacobsen. Er kümmerte sich um diejenigen, die in Not waren, er half den Einwanderern, Arbeit zu finden, und er sprach bei mehr Trauergottesdiensten als irgendein anderer Mensch, den ich je gekannt habe.
Louis Jacobsen erzählte mir einmal in nachdenklicher Stimmung von seiner Jugendzeit. Er war der Sohn einer armen dänischen Witwe. Er war klein, nicht gerade gutaussehend und daher leicht das Ziel gedankenloser Scherze seiner Klassenkameraden. An einem Sonntagmorgen machten sich die Kinder in der Sonntagsschule über seine geflickte Hose und sein abgetragenes Hemd lustig. Da der kleine Louis zu stolz war, um zu weinen, lief er aus der Kirche und hielt erst an, als er sich völlig außer Atem auf den Bordstein an einer der Hauptstraßen von Salt Lake City setzte. Im angrenzenden Rinnstein floss klares Wasser. Louis nahm aus seiner Hosentasche ein Stück Papier, worauf die Lektion der Sonntagsschule geschrieben stand, und faltete gekonnt ein Papierschiffchen, das er ins fließende Wasser ließ. Aus seinem verletzten Kinderherz kamen die entschlossenen Worte: „Da geh ich nie wieder hin!“
Durch tränenfeuchte Augen sah Louis plötzlich, dass sich die Gestalt eines großen, gut gekleideten Mannes im Wasser spiegelte. Louis blickte auf und erkannte George Burbidge, den Sonntagsschulleiter. „Darf ich mich zu dir setzen?“ fragte der Mann freundlich. Louis nickte zustimmend. Da auf dem Bordstein saß ein barmherziger Samariter, der jemandem half, der gewiss in Not war. Während ihrer Unterhaltung falteten sie einige Papierschiffchen und ließen diese zu Wasser. Schließlich stand der Sonntagsschulleiter auf und ging mit dem Jungen, der die Hand des Mannes fest umklammert hielt, zur Sonntagsschule zurück. Später präsidierte Louis selbst über diese Sonntagsschule. Sein ganzes Leben lang stand er im Dienst anderer und vergaß dabei nie den Reisenden, der ihn auf seinem Weg nach Jericho gerettet hatte.4
3
Liebe ist die treibende Kraft, die Veränderung bewirkt, und der Balsam, der Heilung bringt
Im Herzen der Aufrichtigen hallt die persönliche Aufforderung des Herrn ganz sanft wider: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten.“ (Offenbarung 3:20.) Hat diese Tür einen Namen? Allerdings. Ich nenne sie die Tür der Liebe.
Liebe ist die treibende Kraft, die Veränderung bewirkt. Liebe ist der Balsam, der der Seele Heilung bringt. Doch Liebe wächst nicht von allein wie Unkraut oder fällt wie Regen herab. Die Liebe hat ihren Preis. „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat.“ (Johannes 3:16.) Der Sohn, ja, der Herr Jesus Christus, hat sein Leben hingegeben, damit wir ewiges Leben haben können. So groß war seine Liebe zum Vater und zu uns.
In seinen liebevollen und bewegenden Abschiedsworten an seine geliebten Jünger hat Jesus gesagt: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt.“ (Johannes 14:21.) Am weitreichendsten war wohl die Aufforderung: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Johannes 13:34.) …
Ich lobe alle, die mit liebevoller Fürsorge, Mitgefühl und Anteilnahme die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden und den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf verschaffen. Dem, der auch den Spatz vom Himmel fallen sieht, entgeht eine solche Wohltat nicht.5
Vor kurzem musste ich an etwas denken, was sich in meiner Kindheit ereignet hat … Ich war erst elf Jahre alt. Unsere PV-Leiterin Melissa war eine ältere, liebevolle Frau mit grauen Haaren. Einmal bat mich Melissa in der PV, noch zu bleiben, weil sie mit mir reden wollte. Da setzten wir beide uns also in dem sonst leeren Gemeindehaus zusammen. Sie legte mir einen Arm um die Schulter und begann zu weinen. Überrascht fragte ich sie, warum sie denn weine.
Sie erwiderte: „Mir gelingt es einfach nicht, dass die [Jungen] während der Eröffnung in der PV andächtig sind. Würdest du mir dabei helfen, Tommy?“
Ich versprach es Melissa. Zu meinem, aber nicht zu Melissas Erstaunen war damit in der PV jedes Problem mit der Andacht gelöst. Sie hatte die Ursache des Problems angesprochen – mich. Ihre Lösung lautete Liebe.
Die Jahre vergingen. Die wundervolle Melissa, zu der Zeit bereits über 90, wohnte in einem Pflegeheim im Nordwesten von Salt Lake City. Kurz vor Weihnachten beschloss ich, meine liebe PV-Leiterin zu besuchen. Im Autoradio hörte ich das Lied „Hört, die Engelschöre singen: Heil dem neugebornen Kind!“ [Gesangbuch, Nr. 136.] Ich dachte über den Besuch der Sterndeuter vor so vielen Jahren nach. Sie hatten Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenk mitgebracht. Ich brachte nur das Geschenk der Liebe mit und den Wunsch, ihr zu danken.
Ich fand Melissa im Speisesaal. Sie starrte auf ihren Teller und schob mit der Gabel, die sie in ihrer vom Alter gezeichneten Hand hielt, das Essen hin und her. Aber sie aß nicht. Als ich sie ansprach, blickte sie mich freundlich, aber ausdruckslos an. Ich nahm die Gabel, reichte Melissa das Essen und sprach mit ihr darüber, was sie für die Jungen und Mädchen in der PV getan hatte. Sie gab keinerlei Anzeichen von sich, dass sie mich erkannte, und sprach auch kein einziges Wort. Zwei andere Bewohner des Pflegeheims blickten mich verwundert an. Schließlich sagte einer von ihnen: „Bemühen Sie sich nicht. Sie erkennt niemanden – nicht einmal ihre eigene Familie. Seitdem sie hier ist, hat sie nicht ein Wort gesprochen.“
Das Essen endete. Meine einseitige Unterhaltung neigte sich dem Ende zu. Ich stand auf und wollte gehen. Ich hielt ihre gebrechliche Hand in meiner, blickte ihr in das faltige, aber schöne Gesicht und sagte: „Gott segne Sie, Melissa. Frohe Weihnachten!“ Ohne Vorwarnung sagte sie: „Ich kenne dich. Du bist Tommy Monson, mein Junge aus der PV. Wie lieb ich dich doch habe!“ Sie drückte meine Hand an ihre Lippen und küsste sie liebevoll. Tränen liefen ihr über die Wangen und benetzten unsere ineinander verschlungenen Hände. Diese Hände wurden an jenem Tag vom Himmel geheiligt und von Gott gesegnet.6
4
Wir zeigen Nächstenliebe, wenn wir andere nicht verurteilen und kritisieren
Zwei Jungverheiratete, Lisa und John, waren in ein anderes Stadtviertel gezogen. Eines Morgens blickte Lisa beim gemeinsamen Frühstück aus dem Fenster und beobachtete, wie die Frau von nebenan Wäsche aufhängte.
„Diese Wäsche ist nicht sauber!“, entfuhr es Lisa. „Unsere Nachbarin weiß nicht, wie man die Kleidung sauber bekommt.“
John schaute hinaus, sagte aber nichts.
Jedes Mal, wenn die Nachbarin Wäsche zum Trocknen aufhängte, machte Lisa ähnliche Bemerkungen.
Einige Wochen später warf Lisa einmal mehr einen Blick aus dem Fenster und erblickte zu ihrer Überraschung im Garten ihrer Nachbarin saubere Wäsche an der Leine. Sie wandte sich ihrem Mann zu und sagte: „Sieh mal, John, sie hat endlich begriffen, wie man richtig wäscht! Ich frage mich, wie sie das hinbekommen hat.“
Darauf John: „Weißt du, Liebes, das kann ich dir sagen. Sicher ist dir entgangen, dass ich heute Morgen zeitig aufgestanden bin und unsere Fenster geputzt habe.“
[Ich möchte Ihnen einige Gedanken dazu mitteilen], wie wir einander betrachten. Schauen auch wir durch ein Fenster, das mal geputzt werden müsste? Fällen wir ein Urteil, auch wenn wir nicht alle Fakten kennen? Was sehen wir, wenn wir andere betrachten? Wie urteilen wir über sie?
Der Heiland hat uns geboten, nicht zu richten [siehe Matthäus 7:1]. Weiter sagte er: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ [Matthäus 7:3.] Man könnte es auch so ausdrücken: Warum siehst du die deiner Meinung nach schmutzige Wäsche im Nachbarsgarten, aber die schmutzigen Fenster an deinem Haus bemerkst du nicht?
Niemand von uns ist vollkommen. Ich kenne auch keinen, der das von sich behaupten würde. Und dennoch neigen wir trotz unserer eigenen Unvollkommenheiten aus irgendeinem Grund dazu, uns über diejenigen anderer auszulassen. Wir urteilen darüber, was andere tun oder lassen.
Es gibt wahrlich keine Möglichkeit, wie wir das Herz, die Absichten oder die Umstände von jemandem kennen können, der etwas sagt oder tut, was wir kritikwürdig finden. Daher das Gebot, nicht zu richten. …
Ich betrachte Nächstenliebe, also die „reine Christusliebe“, als das Gegenteil von Kritik und Verurteilung. [Ich spreche] von der Art Nächstenliebe, die sich darin zeigt, dass man anderen gegenüber tolerant ist und angesichts ihres Verhaltens Nachsicht walten lässt; die Art Nächstenliebe, die einen vergeben lässt; die Art Nächstenliebe, die einen geduldig macht.
Ich denke an die Art Nächstenliebe, die in einem Einfühlsamkeit, Mitgefühl und Barmherzigkeit weckt, und das nicht nur, wenn jemand krank, bedrängt oder verzweifelt ist, sondern auch, wenn jemand Schwäche zeigt oder einen Fehler macht.
Es besteht wirklich Bedarf an der Art Nächstenliebe, die einen dazu bewegt, jemandem, den sonst niemand bemerkt, Aufmerksamkeit zu schenken, dem Mutlosen Hoffnung einzuflößen und dem Bedrängten beizustehen. Wahre Nächstenliebe veranlasst uns zum Handeln. Nächstenliebe wird überall gebraucht.
Gebraucht wird die Art Nächstenliebe, die es einem unerträglich macht, sich am Unglück anderer zu weiden und es auch noch fröhlich weiterzuerzählen, es sei denn, dem Leidtragenden ist damit gedient. …
Nächstenliebe bedeutet, dass man Geduld hat mit jemandem, der einen enttäuscht hat; sie bedeutet, dass man sich nicht leicht kränken lässt. Sie bedeutet, dass man Fehler und Schwächen akzeptiert. Sie bedeutet, dass man die Menschen so nimmt, wie sie sind. Sie bedeutet, dass man hinter die Fassade blickt und auf Eigenschaften achtet, die nicht mit der Zeit verblassen. Sie bedeutet, dass man dem Drang widersteht, andere in eine bestimmte Schublade zu stecken. … Verurteilen und kritisieren wir einander doch nicht, sondern empfinden wir die reine Liebe Christi für diejenigen, die mit uns den Lebensweg beschreiten. …
„Die Nächstenliebe hört niemals auf.“ [Moroni 7:46.] Möge … diese zeitlose Wahrheit … Ihnen bei all Ihren Unternehmungen Richtschnur sein. Möge [sie] Teil Ihres Wesens werden und in Ihrem ganzen Denken und Handeln zum Ausdruck kommen.7
Anregungen für Studium und Unterricht
Fragen
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Lesen Sie in Abschnitt 1 die vielen Möglichkeiten nach, wie wir laut Präsident Monson Liebe zum Ausdruck bringen können. Auf welche Weise können wir im alltäglichen Umgang miteinander mehr Liebe zeigen? Wie können wir mehr Liebe für andere entwickeln? Wie hilft Ihnen die Erkenntnis, dass die Liebe des himmlischen Vaters „ganz einfach immer vorhanden“ ist?
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Denken Sie über die Fragen nach, die Präsident Monson in Bezug auf unseren eigenen Weg nach Jericho stellt (siehe Abschnitt 2). Inwiefern sind Sie schon gesegnet worden, weil jemand für Sie ein barmherziger Samariter war? Was lernen wir aus der Geschichte über Louis Jacobsen und George Burbidge? Weshalb ist es wichtig, dass wir uns anderer annehmen, anstatt uns nur um uns zu kümmern?
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Präsident Monson nennt die Liebe die „treibende Kraft, die Veränderung bewirkt“ (Abschnitt 3). Wie hat die Liebe einer Lehrerin ihm als elfjähriges PV-Kind geholfen, sich zu ändern? Wann hat sich die Liebe eines anderen schon positiv auf Sie ausgewirkt? Weshalb ist Liebe derart machtvoll?
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Was lernen wir aus Präsident Monsons Geschichte von der Wäsche der Nachbarin über die Liebe (siehe Abschnitt 4)? Warum verurteilen oder kritisieren wir andere manchmal? Wie können wir eine solche Einstellung ablegen? Lesen Sie im vorletzten Absatz, was Präsident Monson über die Nächstenliebe sagt. Überlegen Sie, wie Sie auf diese Weise mehr Nächstenliebe zeigen können.
Einschlägige Schriftstellen
Matthäus 5:44-46; Johannes 15:9-13; 1 Korinther 13:1-13; Kolosser 3:12-14; 1 Nephi 11:8-23; Ether 12:33,34; Moroni 7:47,48; Lehre und Bündnisse 121:45,46
Unterrichtshilfe
„Je nach den Umständen können Sie Ihren Schülern Zuneigung zeigen, indem Sie ihnen aufrichtige Komplimente machen, Interesse an ihrem Leben zeigen, ihnen aufmerksam zuhören, sie in den Unterricht einbeziehen, ihnen behilflich sind oder sie einfach herzlich begrüßen, wenn Sie sie sehen.“ (Auf die Weise des Erretters lehren, 2016, Seite 6.)