2000–2009
„Dir zum Guten“
April 2002


„Dir zum Guten“

Wir [können] aus dem Unglück heraus die größten Triumphe erleben, und es mag der Tag kommen, wenn wir aus unseren Herausforderungen heraus die vertrauten Worte begreifen: „Dir zum Guten“.

Vor einiger Zeit erhielt ich den anonymen Brief einer verzweifelten Mutter, in dem sie mir berichtete, was für Qualen und Schmerzen sie wegen ihres Sohnes litt, der schwerwiegende Übertretungen begangen und unschuldige Menschen, die ihn liebten, sehr verletzt hatte.

Seit ich ihren anonymen Brief erhalten habe, und weil ich ihre Verzweiflung spüre, habe ich den dringenden Wunsch, ihr und anderen in ähnlicher Lage zu sagen, dass ich sie liebe, und zu versuchen, all denen ein wenig Trost und Hoffnung zu bringen, die unerkannt und im Stillen schwere Lasten tragen, von denen oft nur sie selbst und ein liebender Vater im Himmel wissen.

Ich weiß, Schwester Unbekannt, was ich sage, wird Sie nicht nur an das erinnern, was Sie bereits wissen, sondern ein weiteres Zeugnis dafür sein.

Als der Prophet Joseph Smith im Kerker, dem Gefängnis zu Liberty, gefangen war und dort wohl eine seiner schwärzesten Stunden durchlebte, rief er aus: „O Gott, wo bist du?“ (LuB 121:1.) Der Herr tröstete ihn mit den folgenden Worten: „Wisse, mein Sohn, dass dies alles dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen wird.“ (LuB 122:7.) Wie schwer und schmerzlich befremdend mag es wohl sein, im eigenen Unglück und Leid das Gute zu sehen! Wie unvereinbar doch die Worte „dir zum Guten“ zu sein scheinen!

Wenn wir jedoch den Erlösungsplan Jesu Christi verstehen, dann können wir dies alles im richtigen Verhältnis sehen. Im Vorherdasein unterbreitete uns der Vater im Himmel seinen Plan für das irdischen Leben, den Alma als den „Plan des Glücklichseins“ bezeichnete. (Alma 42:8.) Ich glaube, uns allen war klar, dass wir, wenn wir auf die Erde kommen, allen Erfahrungen des Erdenlebens ausgesetzt wären, einschließlich der weniger erfreulichen Prüfungen wie Schmerz, Leid, Hoffnungslosigkeit, Sünde und Tod. Es würde Widerstände und Unglück geben. Wäre das alles gewesen, was wir über den Plan wussten, so bezweifle ich, dass irgendjemand von uns diesen Plan freudevoll angenommen hätte: „Das habe ich immer haben wollen – Schmerz, Leid, Hoffnungslosigkeit, Sünde und Tod.“ Aber der ganze Plan wurde deutlich dargestellt, und er wurde annehmbar, ja, wünschenswert, als ein älterer Bruder vortrat und anbot, hinunterzugehen und ihn zum Guten zu wenden. Aus Schmerz und Leid heraus würde er Frieden bringen. Aus Hoffnungslosigkeitheraus würde er Hoffnung bringen. Aus der Übertretung heraus würde er Umkehr und Vergebung bringen. Aus dem Tod heraus würde er die Auferstehung des Lebens bringen. Nach dieser Erklärung und diesem so großzügigen Angebot urteilte jeder einzelne von uns: „Ich kann es schaffen. Das Risiko lohnt sich.“ Und dann haben wir uns entschieden.

Im 34. Kapitel von Alma im Buch Mormon beschreibt Amulek die unermessliche Größe der Gnade und des Sühnopfers Jesu Christi. Amulek erklärt, dass es „ein großes und letztes Opfer“ geben müsse. (Alma 34:10.) Und dann erläutert er, dass dies nicht ein Opfer von Tieren oder Geflügel sein dürfe, ähnlich denen, die die Menschen bereits kannten. Es müsse das Opfer eines Gottes sein – Jesus Christus –, weil es ein unbegrenztes und ewiges Opfer sein müsse. Und so wurde das Opfer gebracht; und gemäß dem Glauben befinden wir uns auf dieser Reise, die wir das Erdenleben nennen. Infolgedessen ist unser Herz betrübt, wenn wir unerklärlicherweise ein Kind verloren haben oder wenn einer unserer Lieben scheinbar im unpassenden Moment krank oder zum Behinderten geworden ist. Alleinerziehende kämpfen um finanzielle Sicherheit und den beruhigenden Einfluss des Evangeliums in ihrer Familie. Und vielleicht am schwersten ist der Schmerz, den wir erfahren, wenn wir zusehen müssen, wie einer unserer Lieben infolge von Sünde und Übertretungleidet.

Es gibt – wenn überhaupt – nur wenige unter uns, die nicht dieses Feuer des Schmelzers, das Unglück und die Verzweiflung, durchschreiten. Manchmal wissen andere davon, oft wird dies alles aber verborgen und im Stillen ertragen. Für einen Großteil des Kummers, der Schmerzen und Leiden würden wir uns heute nicht entscheiden. Aber wir haben uns dafür entschieden. Wir haben uns entschieden, als wir den gesamten Plan sehen konnten. Wir haben uns entschieden, als wir deutlich sehen konnten, wie der Erretter uns befreit. Und wäre unser Glaube und unser Verständnis heute so klar wie damals, als wir uns entschieden haben, so glaube ich, dass wir uns erneut so entscheiden würden. Deshalb besteht die Herausforderung vielleicht darin, in schweren Zeiten denselben Glauben zu haben wie damals, als wir uns entschieden haben. Ein solcher Glaube wandelt unsere Fragen oder gar unseren Zorn. Wir erkennen die Macht, die Segnungen und die Hoffnung an, die nur von dem kommen können, der die Quelle aller Macht, Segnungen und Hoffnungist. Ein solcher Glaube bringt uns zur Erkenntnis und Gewissheit, dass alles, was wir erleben, Teil des Evangeliumsplans ist, und dass für die Rechtschaffenen alles, was ihnen falsch erscheint, sich zuletzt zum Guten wendet. Dieser Friede und dieses Verständnis, in Würde und mit einem klaren Blick für den Sinn auszuharren, kann der süße Lohn sein. Ein solcher Glaube kann uns dabei helfen, das Gute zu sehen, obwohl der Lebensweg mit Dornen, Disteln und schroffen Felsen übersät zu sein scheint.

Als Jesus und seine Jünger einem Mann begegneten, der von Geburt an blind war, fragten ihn seine Jünger: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ (Johannes 9:2,3.)

Ich glaube nicht, dass unser Vater im Himmel Unglück und Kummer in unserem Leben verursacht. Aber so wie das Wirken Gottes in der Heilung eines blindes Mannes offenbar wurde, so kann „das Wirken Gottes“ auch durch die Weise, wie wir uns unseren Prüfungen stellen, offenbar werden.

Wir können aus unserem Leid das Süße und Gute schöpfen, das oft mit der persönlichen Herausforderung verbunden und ihr eigen ist. Wir können diese denkwürdigen Momente herausfinden, die oft durch Schmerz und Pein überlagert sind. Wir können Frieden finden, indem wir uns anderen zuwenden und aus unserer eigenen Erfahrungen heraus Hoffnung und Trost spenden. Und wir können stets mit stillem Ernst und in großer Dankbarkeit dessen gedenken, der am meisten gelitten hat, um alles für uns zum Guten zu wenden. Und wenn wir dies tun, können wir gestärkt werden, so dass wir voller Frieden unsere Last tragen. Und dann kann „das Wirken Gottes“ offenbar werden.

Hinsichtlich des Sühnopfers Christi gefallen mir die Definitionen der Worte „unbegrenzt“ und „ewig“ aus dem Bedeutungswörterbuch, denn ich glaube, dass durch sie genau erklärt wird, was Gott gemeint hat. Unbegrenzt: „Nicht durch etwas begrenzt oder eingeschränkt.“ Und die Definition von ewig: „Zeitlich ohne Ende, unvergänglich.“ (Duden, Bedeutungswörterbuch, 2002, Seite 933, 346.)

Sehen Sie, Schwester Unbekannt? Das Sühnopfer ist für Sie in Ihrem Leid bestimmt. Es ist persönlich, da er selbst mit Ihren Prüfungen und Sorgen vertraut ist, denn er hat sie bereits durchlitten. Es bedeutet, dass jeder von uns immer neu beginnen kann – selbst ein Sohn, der schwerwiegende Übertretungen begangen hat. Es bedeutet, dass wir uns auf unserem Weg durch die Prüfungen und die Bedrängnisse des Leben, beladen mit Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, nicht darauf konzentrieren, wo wir gewesen sind, sondern wohin wir gehen. Wir konzentrieren uns nicht auf das, was gewesen ist, sondern auf das, was sein kann.

Zugegeben, die meisten von uns würden die schweren Lektionen des Lebens lieber sicher und behaglich in der Sonntagsschule oder vor einem angenehm warmen Kamin beim Familienabend lernen. Ich weise aber darauf hin, dass eine der schönsten, tröstlichsten Schriftstellen, die den Menschen je gegeben wurden, aus den kalten, dunklen Winkeln des Gefängnisses zu Liberty stammt. Sie schließt mit den Worten: „Dies alles [wird] dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen.“ Ebenso können auch wir aus dem Unglück heraus die größten Triumphe erleben, und es mag der Tag kommen, wenn wir aus unseren Herausforderungen heraus die vertrauten Worte begreifen: „Dir zum Guten“.

Wir erfahren aus den heiligen Schriften, dass der Erretter, als er in den Garten Getsemani ging, um den endgültigen Preis für unsere Übertretungen und unser Leid zu zahlen, aus jeder Pore blutete (siehe LuB 19). Ich glaube, Schwester Unbekannt, dass er in seinem unerträglichen Schmerz einen Tropfen Blut für Sie vergossen hat. Er blutete einen Tropfen für Ihren Sohn, und er blutete einen Tropfen für mich.

Ich glaube an das Gebet. Ich glaube an den Glauben. Ich glaube an die Umkehr. Ich glaube an die Macht der Erlösung. Und, Schwester Unbekannt, ich glaube an Sie. Und genau das tut auch ein liebender Vater im Himmel. Im Namen Jesu Christi. Amen.