2021
Bunt sind wir alle
März 2021


Bunt sind wir alle

Hannover (MS): „Ich bin bekannt wie ein bunter Hund“, sagt Ulrike Hormann schelmisch über sich. Und sie hat Recht!

Ulrike strahlt Selbstbewusstsein aus, ist voller Tatendrang und Fröhlichkeit. Sie nimmt ihr Leben mit allen Herausforderungen an und legt jeden Tag bewusst in Gottes Hand. Ulrike ist seit Geburt körperlich behindert.

Ulrike wurde in einem kleinen Dorf in Niedersachsen als viertes und letztes Kind ihrer Eltern geboren. Nach und nach merkten die Eltern, dass sich die kleine Ulrike nicht altersgerecht entwickelte. Sie lernte nicht krabbeln und laufen wie andere Kinder, und die Sprache blieb zurück. Es folgten viele Arztbesuche und die Diagnose: „Ulrike ist Spastikerin!“ Die Eltern erfuhren, dass Spastik von einer Schädigung des zentralen Nervensystems herrührt und nicht heilbar ist.

Ulrikes Eltern waren sehr darauf bedacht, dem kleinen Mädchen jede nur mögliche Förderung zukommen zu lassen. Um ihre Sprachentwicklung zu unterstützen, schulten sie Ulrike schweren Herzens in ein Heim für sprachbehinderte Kinder fernab des Wohnortes ein. Dort galt die sensible Ulrike als „schwieriges Kind“, da sie viel weinte. Deshalb durfte sie nicht wie üblich alle vier Wochen, sondern nur alle acht Wochen besucht werden. Ulrikes Eltern bemerkten erst nach 13 Monaten die Qual ihrer Tochter und holten sie in einer Blitzaktion nach Hause. Später besuchte Ulrike eine Schule für körperlich behinderte Kinder in der Nähe und machte dort den Hauptschulabschluss. Wegen ihrer Lese-/Rechtschreibschwäche scheiterte sie an der Mittleren Reife, während ihre Geschwister die Hochschulreife erlangten. Ulrike war traurig, weil ihr das Lernen so schwerfiel. Ihre Eltern aber sahen, dass der Wert ihrer Tochter in einem anderen Bereich lag. Noch heute kann sich Ulrike, die über ein exzellentes Gedächtnis verfügt, an die Worte ihrer Mutter erinnern: „Ein Abitur ist kein Freifahrtschein. Ein guter Charakter ist mehr wert. DEN HAST DU!“

Mit 20 Jahren durfte Ulrike Schulklassen auf die Nordseeinsel Spiekeroog begleiten. Zum Betreuungspersonal gehörte auch ein Lehrer, der Mitglied der Kirche Jesu Christi war, Bruder Michael Schulze. Dieser machte aus seiner Mitgliedschaft keinen Hehl, und jedermann wusste: „Unter uns ist ein Mormone!“ In abendlichen Gesprächsrunden wurde im wahrsten Sinne des Wortes über „Gott und die Welt“ diskutiert. Bruder Schulze erläuterte das Evangelium und legte den Plan der Erlösung dar. Ulrike hatte dabei ein gutes Gefühl. Sie wollte mehr wissen und ließ sich ein Jahr von Missionaren belehren. Auf die Frage, was sie bei den Belehrungen besonders begeistert hätte, sagt Ulrike und wird dabei ganz andächtig: „Als mich die Missionare gebeten haben, in 3 Nephi 11 über das Erscheinen von Christus in Amerika zu lesen, da war es für mich, als ob ich in eine andere Zeit springen und hautnah Christus begegnen würde. Ich war mitten unter den Nephiten!“ Ulrike wollte sich taufen lassen. Die Eltern waren entsetzt! Der sonst liebevolle Vater sprach drei Tage nicht mit seiner Tochter. Ulrike blieb beharrlich. Schließlich gaben die Eltern ihren Segen – sie mussten zugeben, dass die Kirche einen guten Einfluss auf ihre Tochter hatte. Ulrike wurde getauft.

Seitdem bereichert Ulrike die Gemeinde in Hannover und ist nicht nur dort „bekannt wie ein bunter Hund“. Sie hat ein tiefes Verständnis vom Evangelium, woran sie begeistert jeden teilhaben lässt, der sich die Zeit nimmt, ihrer langsamen Sprechweise zu folgen. Ein besonderes Zeugnis hat Ulrike von der Familienforschung und der Tempelarbeit. Bruder Rolf Glück, der für sie ein väterlicher Freund wurde, stöberte mit ihr in Archiven und erstellte einen umfangreichen Stammbaum. Der Tempel ist für Ulrike eine zweite Heimat geworden. Sie hat eine besondere Verbindung zu „ihren Verstorbenen“ aufgebaut und hat beim Forschen und beim Tempelbesuch viele bedeutsame Erlebnisse.

Inzwischen ist Ulrike 66 Jahre alt. Sie ist im Ruhestand. In jungen Jahren hatte sie die Ausbildung zur Säuglingsschwester – ihren Traumberuf – begonnen, konnte sie aber nicht erfolgreich zu Ende führen. Durch ihre Behinderung wurde sie immer wieder – schneller als andere – an ihre Grenzen gebracht. Mutlos ist sie dadurch nicht geworden. Sie hat sich in der Lebenshilfe „hochgearbeitet“, war dort im heilpädagogischen, später integrativen Kindergarten tätig, hat sich um Büroarbeiten gekümmert und war laut einer Mitarbeiterin ganz einfach „die gute Fee im Hause“. In ihrer Freizeit hat sie über Jahre jeden Monat eine Disco für beeinträchtigte Menschen organisiert. Darüber hinaus ist Ulrike bis heute Vorstandsmitglied der „Stiftung für Behinderte“ ihrer Region und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.

Bei einer Reha-Maßnahme wurde Ulrikes Talent für das Malen entdeckt. Sie schloss sich einer Künstlergruppe an und beteiligte sich an Ausstellungen. Ihre Bilder zeichnen sich durch Kreativität und Vielfalt aus. Lachend erzählt sie von einer besonderen künstlerischen Spezialität: „Bei Künstlerreisen an die Nordsee werfen wir manchmal die Leinwand in den nassen Sand; dabei entstehen wunderschöne Bilder!“ Schon mancher hat ein Gemälde von Ulrike erworben und hat jetzt einen „echten Hormann“ im Wohnzimmer hängen. Fahrradfahren ist ein weiteres Hobby. Seit knapp einem Jahr hat Ulrike ein Elektrodreirad. Und weil sie das, was sie tut, mit Einsatz macht, hat sie bereits über 2.800 Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt.

Auf die Frage, welche Tipps es für den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, hat Ulrike eine prompte Antwort: „Jeder Mensch ist ein Kind Gottes und hat das Recht, respektvoll behandelt zu werden. Wie jeder andere möchte ein behinderter Mensch beachtet und ernst genommen werden und wünscht sich ein Höchstmaß an Eigenständigkeit und Selbstbestimmung.“ Besser hätte man es nicht ausdrücken können.