Geschichte der Kirche
13 Lasst nichts unversucht


„Lasst nichts unversucht“, Kapitel 13 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 13: „Lasst nichts unversucht“

Kapitel 13

Lasst nichts unversucht

Lager aus Tipis

Im Herbst 1853 lebte Augusta Dorius schon seit etwa einem Jahr in Salt Lake City. Die Stadt war bei weitem nicht so groß wie Kopenhagen. Bei den meisten Gebäuden handelte es sich um ein- oder zweigeschossige Block- oder Lehmziegelhäuser. Abgesehen von dem großen Ratsgebäude, wo viele Regierungssitzungen und Versammlungen der Kirche abgehalten wurden, hatten die Heiligen ein Amtsgebäude und einen Viehhof errichtet, wo man den Zehnten sammelte, sowie eine Kulturhalle für Tanzveranstaltungen, Theateraufführungen und sonstige gesellschaftliche Zusammenkünfte. In der Nähe, auf dem Tempelblock, gab es mehrere Werkstätten für den Tempelbau und außerdem ein neues Tabernakel aus Lehmziegeln, in dem fast dreitausend Leute Platz fanden.1

Wie viele andere Mädchen, die aus dem Ausland ins Salzseetal gekommen waren, arbeitete Augusta als Haushaltshilfe bei einer Familie. Da sie dort wohnte und arbeitete, lernte sie rasch Englisch. Dennoch vermisste sie Dänemark und ihre Familie.2 Ihr Bruder Johan war in Norwegen aus dem Gefängnis entlassen worden, und nun verkündeten er und Carl das Evangelium in Dänemark und Norwegen, manchmal sogar gemeinsam. Wenn sich ihr Vater nicht um Augustas drei jüngere Schwestern kümmern musste, predigte er ebenfalls in ganz Dänemark. Augustas Mutter wohnte in Kopenhagen und hatte noch immer kein Interesse an der Kirche.3

Ende September freute sich Augusta, als eine Abteilung von etwa zweihundert dänischen Heiligen in Salt Lake City eintraf. Ihre Familie war zwar nicht dabei, aber die Ankunft ihrer Landsleute trug dazu bei, dass sich Augusta in Utah heimisch fühlte. Kaum war die Abteilung eingetroffen, beauftragte Brigham Young die Dänen jedoch, ein anderes Gebiet im Territorium zu besiedeln.4

Seit der Ankunft in den Rocky Mountains hatten die Heiligen auch außerhalb des Salzseetals Siedlungen gegründet, darunter Ogden im Norden und Provo im Süden. Zwischen diesen Siedlungen und jenseits davon hatte man weitere Städte errichtet. Brigham hatte außerdem Familien in den Süden von Utah geschickt, die dort ein Eisenwerk bauen und Eisenwaren herstellen sollten, um dem Territorium zu größerer Autarkie zu verhelfen.5

Die Dänen schickte Brigham zur Stärkung der dortigen Siedlungen ins Sanpete Valley, gut hundertfünfzig Kilometer südöstlich von Salt Lake City.6 Die ersten Siedler waren im Herbst 1849 in Sanpete eingetroffen. Walkara, ein hoher Anführer der Ute, hatte sie eingeladen und sich dann im folgenden Frühjahr taufen lassen.7 Allerdings war es zu dieser Zeit zu Spannungen gekommen, nachdem drei Siedler sich im benachbarten Utah Valley mit einem Ute namens Old Bishop um ein Hemd gestritten und ihn umgebracht hatten.

Als die Ute Vergeltung übten, hatte Brigham den Siedlern zunächst dringend geraten, nicht zurückzuschlagen. Grundsätzlich wollte er, dass die Heiligen mit ihren indianischen Nachbarn friedlich zusammenlebten. Nachdem er sich allerdings mit einem Anführer der Siedlung in Provo besprochen hatte, der ihm den Mord an Old Bishop verschwieg, befahl er schließlich der Miliz, gegen die Angreifer vom Stamm der Ute einen Feldzug zu führen. Anfang 1850 griff die Miliz ein Lager von etwa siebzig Ute am Provo River an. Nach einem zweitägigen Gefecht flohen die Indianer, aber die Miliz verfolgte die meisten von ihnen bis ans Südende vom Utah Lake, kreiste sie ein und tötete sie.

Der rasche, blutige Feldzug setzte den Feindseligkeiten im Raum Provo ein Ende,8 führte jedoch zu Spannungen, die schnell ins Sanpete Valley übersprangen, wo sich die Siedler auf fruchtbarem Land niedergelassen hatten und den Indianern den Zugang zu Fisch- und Jagdgründen versperrten. Aus Hunger und Verzweiflung erlegten ein paar Indianer das Vieh der Siedler oder verlangten Nahrung von ihnen.9

Außerdem hatten führende Territorialbeamte Walkara und sein Volk damit verärgert, dass sie den Handel in dem Gebiet regulierten – wie zum Beispiel den langjährigen Brauch der Indianer, von anderen Stämmen Gefangene zu nehmen und als Sklaven zu verkaufen. In Utah war es den Indianern gesetzlich untersagt, ihre Gefangenen an spanische oder mexikanische Sklavenhändler zu verkaufen. Den Heiligen aber konnten Walkara und die anderen Indianer sie als Vertragsknechte anbieten. Bei vielen Gefangenen handelte es sich um Frauen und Kinder, und die Heiligen kauften diese oft, weil sie meinten, sie damit vor Folter, Verwahrlosung und Tod zu bewahren. Einige Heilige stellten die ehemaligen Gefangenen als Arbeitskräfte ein, andere nahmen sie sogar in die Familie auf.

Der Verlust des Handels mit den Spaniern und den Mexikanern war ein schwerer Schlag für die Ute, insbesondere nachdem sie wegen der neuen Siedlungen Land verloren hatten und der Sklavenhandel dadurch ein noch wichtigerer Teil ihrer Existenzgrundlage geworden war.10

Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt, als ein Mann im Utah Valley bei einer Schlägerei einen Ute umbrachte und Walkara Vergeltung übte.11 Die Anführer der Miliz in Salt Lake City befahlen ihren Männern, sich defensiv zu verhalten und keinen Ute zu töten, aber einige Siedler handelten gegen den Befehl, und so kam es auf beiden Seiten zu brutalen Übergriffen.12

Augusta wusste, dass sie mit einem Umzug ins Sanpete Valley mitten in diese Auseinandersetzungen geraten würde, beschloss aber dennoch, sich den Heiligen aus Dänemark anzuschließen. Auf dem Weg in den Süden fiel ihnen auf, dass manche Siedler ihre kleineren Farmen und Siedlungen aufgegeben und vorsichtshalber Forts errichtet hatten.13

Im Sanpete Valley ließ sich die Abteilung an einem Ort namens Spring Town nieder. Die Hütten der fünfzehn Familien, die dort lebten, waren in einem engen Kreis angeordnet. Leerstehende Hütten gab es nicht, sodass Augusta und die anderen neuen Siedler in ihren Wagen blieben. Jeden Morgen und jeden Abend ertönte ein Trommelschlag. Dann mussten sich alle Siedler aufstellen, und Bischof Reuben Allred teilte Wachen ein und verteilte weitere Aufgaben. Da Augusta bei der Familie, für die sie im Salzseetal gearbeitet hatte, Englisch gelernt hatte, stellte sie der Bischof als Dolmetscherin für die dänischen Heiligen an.14

Nach einiger Zeit waren die Lebensmittelvorräte der Siedler erschöpft, und der Bischof entsandte schnelle Reiter, im Nachbarort Manti Hilfe zu holen. Als die Gruppe zurückkehrte, berichtete sie, Walkara sei weiter in den Süden gezogen und stelle daher keine Bedrohung mehr dar.15 In anderen Gebieten des Territoriums schienen sich die Reibereien ebenfalls dem Ende zuzuneigen.16

Starke Schneefälle und frostige Temperaturen im Winter ließen jedoch sowohl die Siedler als auch die Ute mehr denn je verzweifeln, denn die Vorräte wurden immer knapper. Die Verantwortlichen von Spring Town befürchteten, ein Angriff sei nur eine Frage der Zeit, und ordneten an, dass sich alle in Manti in Sicherheit zu bringen hätten. Im Dezember schließlich verließen Augusta und die anderen Siedler inmitten eines heftigen Schneesturms die Stadt.17


Während sich Augusta in Manti einlebte und der Konflikt mit Walkaras Volk ungelöst blieb, besprach die fünfunddreißigjährige Matilda Dudley mit einigen Freundinnen in Salt Lake City, wie man den indianischen Frauen und Kindern helfen könne.18

Seit es zu der Auseinandersetzung mit Walkara gekommen war, hatten Brigham Young und die anderen Führer der Kirche die Heiligen ermahnt, jegliche Feindseligkeiten gegen die Ute und weitere Indianerstämme einzustellen. „Lasst nichts unversucht, die Indianer mit einer friedlichen Botschaft zu erreichen“, bat er eindringlich.

Bei der Generalkonferenz im Oktober 1853 war Brigham bewusstgeworden, dass die Missionare in aller Welt unterwegs waren, um Israel zu sammeln, während die Indianer – ein Überrest des Hauses Israel – sich bereits mitten unter ihnen aufhielten. Daraufhin berief er über zwanzig Missionare, den Winter über die Sprachen der Indianer zu lernen, damit sie im Frühjahr unter ihnen missionieren konnten.

Außerdem hielt er die Heiligen dazu an, sich nicht zu rächen, falls Indianer Pferde, Vieh oder sonstiges Eigentum stahlen. „Schande über euch, solltet ihr sie töten wollen“, sagte er. „Bringt sie nicht um, predigt ihnen lieber das Evangelium.“19 Parley Pratt forderte die Heiligen außerdem eindringlich auf, den indianischen Frauen und Kindern Nahrung und Kleidung zu geben.20

Durch diese Worte fühlte sich Matilda – eine alleinstehende Mutter mit einem Sohn – angespornt. Sie war in den Oststaaten aufgewachsen. Als sie noch ein Baby war, hatten Indianer ihren Vater umgebracht und sie und ihre Mutter entführt. Ein älterer Indianer hatte dann jedoch Mitleid gehabt und eingegriffen, um ihr Leben zu retten. Seitdem waren Einigkeit, Demut und Liebe für sie von hohem Wert. Und sie war überzeugt, dass sie und ihre Freundinnen unbedingt eine Frauenvereinigung gründen und Kleidung für die Indianer herstellen sollten.21

Auch eine ihrer Freundinnen, Amanda Smith, wollte mitmachen. Sie hatte das Massaker von Hawn’s Mill überlebt und der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo angehört. Neun Monate nach dem Tod von Joseph Smith waren die Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung auf Weisung von Brigham Young ausgesetzt worden, aber Amanda und die anderen Frauen in der Kirche waren in ihrem Umfeld weiterhin tätig gewesen und wussten, wie viel Gutes die Frauenhilfsvereinigungen leisten konnten.22

Am 9. Februar 1854 berief Matilda die erste offizielle Sitzung ihrer neuen Hilfsorganisation ein. Die Frauen strömten aus verschiedenen Teilen der Stadt zu ihr und besetzten die verschiedenen Führungsposten der Gruppe. So wählte man Matilda zur Präsidentin und Schatzmeisterin, und sie bat jede Schwester um einen Mitgliedsbeitrag von fünfundzwanzig Cent. Außerdem schlug sie vor, gemeinsam einen Flickenteppich zu nähen und zu verkaufen, um dann von dem Erlös Material für die Herstellung von Kleidung für die indianischen Frauen und Kinder zu beschaffen.23

Den übrigen Winter hindurch und im Frühjahr kamen die Frauen jede Woche zusammen, arbeiteten an dem Teppich und genossen die gemeinsame Zeit. „Der Geist des Herrn war mit uns“, schrieb Amanda Smith später. „Die Einigkeit war deutlich zu spüren.“24


Als der Frühling ins Salzseetal einzog, brachen die Männer, die zu den Indianern auf Mission berufen worden waren, in den Süden auf. Zwanzig Missionare, die in Hawaii tätig werden sollten, begleiteten sie. Zur gleichen Zeit verließen auch Brigham Young und weitere Führer der Kirche Salt Lake City, um die Siedlungen im Süden zu besuchen und sich mit Walkara zu treffen. Der Anführer der Ute hatte vor kurzem versprochen, den Konflikt zu beenden, sofern man ihm Geschenke überbrachte und ihm zusicherte, dass das Territorium seinen Widerstand gegen den Sklavenhandel aufgab.25

Brigham wusste jedoch, dass der Konflikt anhalten würde, bis die Siedler und die Ute die Gesetze des Territoriums befolgten und gegenseitig ihre Rechte respektierten. Daher vereinbarte er ein Treffen mit Walkara am Chicken Creek, einem Ort in der Nähe der Siedlung Salt Creek, wo Siedler im vergangenen Herbst neun Ute umgebracht hatten.26

Brigham und seine Männer erreichten den Chicken Creek am 11. Mai. Etwa ein Dutzend Indianer im Lager der Ute waren krank, darunter Walkaras Tochter. Mehrere Krieger bewachten Walkaras Zelt. Die Ute erlaubten Brigham und anderen Führern der Kirche, das Zelt zu betreten. Walkara lag in eine Decke gewickelt auf dem schmutzigen Boden. Weitere Anführer der Ute aus benachbarten Tälern saßen bei ihm.

Walkara wirkte krank und schlecht gelaunt. „Ich will nicht sprechen. Präsident Young soll sprechen“, sagte er. „Mir fehlt aller Lebensmut, und ich habe Angst.“

„Ich habe dir Rinder mitgebracht“, sagte Brigham. „Ich lasse eines schlachten, damit du ein Festmahl ausrichten kannst, während wir hier sind.“ Er half Walkara, sich aufzurichten, und setzte sich neben ihn auf den Boden.27

„Bruder Brigham, lege mir die Hände auf“, bat Walkara. „Mein Geist ist nicht mehr bei mir, und ich möchte, dass er zurückkommt.“ Brigham gab ihm einen Segen, doch obwohl sich Walkaras Zustand schon bald verbesserte, wollte er noch immer nicht sprechen.28

„Lassen wir Walkara schlafen und sich ausruhen, vielleicht redet er dann“, schlug Brigham den anderen Männern im Zelt vor.29 Er schenkte den Ute Vieh, Tabak und Mehl, und abends hielt das ganze Lager ein Festmahl ab.30

Am nächsten Morgen segnete Brigham Walkaras Tochter. Außerdem befand sich unter seinen Männern ein Arzt, der ihr und den anderen Kranken im Lager Medizin verabreichte. Dann versprach Brigham, seine Freundschaft mit den Ute weiterhin zu pflegen, und bot ihnen an, sie mit Nahrung und Kleidung zu versorgen, sofern sie versprachen, die Angriffe einzustellen. Er war jedoch nicht bereit, das Verbot des Sklavenhandels aufzuheben.31

Walkara willigte ein, die Siedler nicht mehr anzugreifen. „Nun verstehen wir einander“, sagte er. „Wir können in Frieden auseinandergehen und brauchen uns nicht mehr zu fürchten.“ Die beiden Männer reichten einander die Hand und rauchten eine Friedenspfeife.32

Anschließend reiste Brigham mit seiner Gruppe von Führern der Kirche und Missionaren weiter südwärts und sprach in jeder Siedlung über die Indianer.33 „Der Herr hat mir gesagt, dass es unsere Pflicht ist, den Überrest des Hauses Israel zu retten. Sie sind unsere Brüder“, sagte er der versammelten Zuhörerschaft einmal.

Viele Heilige hätten, so Brigham, vor dem Treck in den Westen prophezeit oder in Visionen gesehen, dass man den Indianern das Evangelium verkünden und ihnen bestimmte Fertigkeiten wie Nähen oder Feldarbeit beibringen werde. Dieselben Leute wollten jetzt nichts mehr mit den Indianern zu tun haben. „Die Zeit ist gekommen, da ihr vollbringen müsst, was ihr vor vielen Jahren gesehen habt“, mahnte er.34

Nach einem Besuch in Cedar City, der südlichsten Siedlung der Heiligen im Territorium, verabschiedete sich Brigham von den Männern, die unter den Indianern und in Hawaii als Missionare tätig sein sollten. Er kehrte in den Norden zurück und erklärte gleich am ersten Sonntag den Frauen von Salt Lake City, dass man in jeder Gemeinde Frauenvereinigungen wie die von Matilda Dudley gründen solle, die die Indianerfrauen und -kinder mit Kleidung versorgen sollten.35

Daraufhin rief man in den Gemeinden im Salzseetal über zwanzig Frauenvereinigungen ins Leben, die den Indianern helfen wollten. Die Frauen gingen von Haus zu Haus und baten um Spenden in Form von Kleidung, Teppichen, Nähutensilien oder anderen Gegenständen, für die man bares Geld bekommen konnte.36


Unter den Missionaren, die mit Brigham Young in den Süden gereist waren, befand sich auch der fünfzehnjährige Joseph F. Smith, der jüngste Sohn des Patriarchen und Märtyrers Hyrum Smith. Nachdem sich Brigham Young am 20. Mai 1854 auf den Heimweg gemacht hatte, breitete Joseph abends in Cedar City eine Decke aus und legte sich auf dem harten Boden schlafen. Er hatte auf dem Weg zur kalifornischen Küste das Territorium durchquert und war den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen. Trotzdem konnte er nicht einschlafen. Als er im Himmel die unzähligen Sterne der Milchstraße erblickte, ergriff ihn Heimweh.

Von den zwanzig Missionaren, die nach Hawaii gingen, war Joseph der jüngste. Zwar begleiteten ihn auch zwei Cousins seines Vaters, aber er fühlte sich trotzdem von allen, die er liebte und ehrte, abgeschnitten.37 Jungen in seinem Alter wurden normalerweise nicht auf Mission berufen. Bei ihm war es etwas anders.

Seit fast zehn Jahren – seit sein Vater und sein Onkel ermordet worden waren – war er sehr aufbrausend. Und je älter er wurde, desto schlimmer wurde es. Sein Eindruck, dass man seiner Mutter, Mary Fielding Smith, nicht den gebührenden Respekt erwiesen habe, verschärfte sich. Joseph war überzeugt, dass man sich nach dem Tod ihres Mannes nicht genug um sie gekümmert hatte, besonders auf dem Weg in den Westen.38

Er hatte sehr wohl in Erinnerung behalten, wie sich der Hauptmann der Abteilung darüber ausgelassen hatte, dass Mary und ihre Familie den Wagenzug verlangsamten. Daraufhin hatte Mary geschworen, das Tal mit ihrer Familie noch vor ihm zu erreichen, und Joseph wollte ihr helfen, ihr Versprechen einzuhalten. Obwohl er damals erst neun Jahre alt war, lenkte er den Wagen, kümmerte sich ums Vieh und tat überhaupt alles, was seine Mutter ihm auftrug. Letzten Endes brachten ihr starker Wille und Glaube die Familie vor dem Hauptmann ins Salzseetal, genau wie sie es vorausgesagt hatte.39

Die Familie ließ sich südlich von Salt Lake City nieder, doch Mary erlag im Herbst 1852 einer Lungenentzündung. Als Joseph von ihrem Tod erfuhr, wurde er ohnmächtig.40 Eine Zeit lang wohnten er und seine jüngere Schwester Martha Ann bei einer freundlichen Dame auf einer Farm, aber auch sie verstarb. Daraufhin kümmerte sich die Tante der beiden, Mercy Thompson, um Martha Ann, und der Apostel George A. Smith, ein Cousin ihres Vaters, nahm Joseph bei sich auf.

Joseph war außerdem auf die Unterstützung seiner älteren Geschwister angewiesen. Seine älteste Schwester Lovina war zwar mit ihrem Mann und ihren Kindern in Illinois geblieben, aber sein älterer Bruder John und seine älteren Schwestern Jerusha und Sarah wohnten in der Nähe.

Wie viele Jungen in seinem Alter arbeitete Joseph als Hirtenjunge und kümmerte sich um die Rinder und Schafe seiner Familie.41 Doch obwohl ihn diese Arbeit sehr in Anspruch nahm, wurde er bald ungestüm und launisch. Als man ihn auf Mission berief, hätte er die Berufung ablehnen können, wie manche es taten, und sich von seinem Zorn auf einen anderen Weg leiten lassen können. Das Beispiel seiner Eltern bedeutete ihm jedoch zu viel. In nur wenigen Wochen wurde er zum Melchisedekischen Priestertum ordiniert, empfing das Endowment und wurde als Missionar dazu eingesetzt, das Evangelium Jesu Christi zu verkünden.42

Als er nun in Cedar City unter dem Sternenhimmel lag, wusste er kaum, wohin er eigentlich ging und was ihn nach der Ankunft erwartete. Er war doch erst fünfzehn! Manchmal fühlte er sich stark und wichtig, aber dann wurde ihm auch wieder bewusst, wie schwach und unbedeutend er war.

Was wusste er schon über die Welt oder wie man das Evangelium predigte?43


Über das Sanpete Valley legte sich im Sommer 1854 Frieden, obgleich man wachsam blieb. Augusta Dorius hatte sich mittlerweile Bischof Reuben Allred und einer Gruppe von fünfzehn Familien angeschlossen, die gut zehn Kilometer nördlich von Manti ein Fort bauten. Die meisten waren Dänen aus Spring Town, aber auch ein Heiliger aus Kanada namens Henry Stevens war mit seiner Frau Mary Ann und den vier Kindern mitgekommen. Henry und Mary Ann gehörten schon viele Jahre lang der Kirche an, waren aber erst seit kurzem im Sanpete Valley.44

Bischof Allred wies die Gruppe an, sich an einem kleinen Fluss in der Nähe eines niedrigen Gebirgsrückens niederzulassen. Der Ort schien für eine Siedlung ideal, doch hatte die Angst vor Übergriffen der Indianer, die in dem Gebiet jagten, die meisten Siedler abgeschreckt.

Sofort begannen die Heiligen mit dem Bau ihres Forts. Mit Kalkstein aus den umliegenden Bergen errichteten sie drei Meter hohe Mauern, die sie mit kleinen Scharten im Abstand von sechs Metern versahen, um Angreifer abwehren zu können. An der Vorderseite des Forts, das sie Ephraim nannten, bauten sie einen Turm und ein großes Tor, von wo aus Wachen nach Gefahr Ausschau halten konnten. Innerhalb der Mauern gab es genügend Platz, sodass man die Pferde, Rinder und Schafe über Nacht hereinholen konnte. Innen an der Mauer entlang wurden für die Siedler Hütten aus Lehm und Baumstämmen aufgestellt.

Augusta wohnte bei Bischof Allred und seiner Frau Lucy Ann. Die Allreds hatten sieben Kinder, darunter Rachel, eine junge Indianerin, die sie adoptiert hatten. Die Siedler in Fort Ephraim besaßen nur sehr wenig, waren jedoch hoffnungsvoll, was die Zukunft ihrer neuen Siedlung anging. Tagsüber spielten die Kinder im Fort, während die Frauen und Männer arbeiteten.45

Es waren über zwei Jahre vergangen, seitdem Augusta Dänemark verlassen hatte. Viele Familien hatten sie bei sich aufgenommen und für sie gesorgt, doch nun wollte sie eine eigene Familie. Mit sechzehn Jahren befand sie sich in einem Alter, in dem so manche Frau im Grenzgebiet heiratete. Sie hatte sogar schon ein paar Heiratsanträge bekommen, sich jedoch immer zu jung gefühlt.

Als Henry Stevens sie um ihre Hand bat, dachte sie ernsthaft darüber nach. Manchen Frauen ging es in einer Mehrehe sehr gut, andere fanden es eher schwierig und fühlten sich manchmal einsam. Wer sich entschied, nach diesem Grundsatz zu leben, tat dies oft vor allem aus Glauben und nicht aus romantischer Zuneigung. In Predigten und auch in privaten Gesprächen rieten die Führer der Kirche denen, die in Mehrehe lebten, oft, in der Familie Selbstlosigkeit und die reine Christusliebe zu pflegen.46

Im Sanpete Valley gehörte etwa ein Viertel der Siedler einer Familie an, die in Mehrehe lebte.47 Als Augusta über diesen Grundsatz nachdachte, hatte sie das Gefühl, dass er gut war. Auch wenn sie Henry und Mary Ann, die schwächlich und oft krank war, kaum kannte, hielt sie die beiden für gute Menschen, die sich um sie kümmern und für sie sorgen wollten. Dennoch erforderte es Glauben, ein Teil dieser Familie zu werden.

Schließlich nahm Augusta Henrys Antrag an, und schon bald reisten sie nach Salt Lake City, um im Ratsgebäude aneinander gesiegelt zu werden. Nach der Rückkehr nach Fort Ephraim erfüllte Augusta ihre Aufgaben in der Familie. Wie die meisten Ehefrauen molk sie Kühe, stellte Kerzen, Butter und Käse her, spann Wolle und webte Stoff. Sie fertigte für die Familie Kleidung an, wobei sie diejenige für die Frauen manchmal mit feiner Häkelspitze verzierte.

Es gab keinen Ofen, und so kochten Augusta und Mary Ann an der Feuerstelle, die ihr bescheidenes Heim auch mit Wärme und Licht versorgte. Abends nahmen sie mit ihren Nachbarn manchmal an Tanzveranstaltungen und anderen geselligen Aktivitäten teil.48


Am 26. September befanden sich Joseph F. Smith und die anderen Missionare auf einem Schiff, das den Hafen von Honolulu anlaufen sollte. Regen verdeckte die Sicht auf die hawaiianischen Inseln. Am späten Nachmittag jedoch hörte der Regen auf und die Sonne drang durch den Nebel und enthüllte einen herrlichen Blick auf die nächstgelegene Insel. Vom Deck aus konnten die Missionare sehen, wie sich Sturzbäche von Regenwasser über eine schmale Schlucht in den Pazifik ergossen.49

Die Missionare erreichten Honolulu am nächsten Tag, und man schickte Joseph zu Francis und Mary Jane Hammond auf Maui. Von den ersten Missionaren in Hawaii waren die meisten, darunter auch George Q. Cannon, inzwischen in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Auch unter der Führung von Francis verlief die Missionsarbeit auf der Insel weiterhin erfolgreich, und viele Heilige bereiteten sich darauf vor, an den neuen Sammlungsort auf Lanai zu ziehen, wo man im Palawai Valley inzwischen eine Siedlung gegründet hatte.50

Kaum war Joseph bei den Hammonds eingetroffen, fing er sich etwas ein, was die Missionare als „Lahaina-Fieber“ bezeichneten. Mary Jane, die eine Schule für Hawaiianer betrieb, während ihr Mann missionierte, pflegte Joseph bis zu seiner Genesung und stellte ihn dann den einheimischen Mitgliedern vor.51

Am 8. Oktober 1854 – Josephs erstem Sonntag auf Maui – ging sie mit ihm zu einer Versammlung mit sechs hawaiianischen Mitgliedern. Die Heiligen hatten gehört, dass es sich bei Joseph um den Neffen des Propheten Joseph Smith handelte, und wollten ihn unbedingt predigen hören. Obwohl er nicht einen einzigen Satz in ihrer Sprache sprechen konnte, schlossen sie ihn sofort ins Herz.

Während der folgenden Tage verschlechterte sich Josephs Gesundheitszustand. Nach dem Unterricht gab Mary Jane ihm Kräutertee und befeuchtete seine Füße, damit das Fieber sank. Er schwitzte die ganze Nacht hindurch, aber am Morgen ging es ihm besser.

Kurz darauf zeigte ihm Francis Lanai. Bislang lebten erst hundert Heilige dort, aber die Missionare rechneten damit, dass in den kommenden Monaten noch Tausende zusammenkommen würden. Um sich auf ihre Ankunft vorzubereiten, hatten einige Missionare begonnen, Felder zu pflügen, Feldfrüchte auszusäen und eine Stadt zu planen.52

Nach dem Besuch auf Lanai kehrte Joseph nach Maui zurück, wo Jonathan und Kitty Napela lebten. Joseph wollte ein guter Missionar sein, vertiefte sich in die Arbeit, lernte die Sprache und traf sich oft mit den einheimischen Heiligen.

„Ich freue mich, dass ich sagen kann: Ich will gerne für diese Sache durch dick und dünn gehen“, schrieb er an George A. Smith. „Und ich hoffe wirklich und bete darum, dass ich bis ans Ende treu bleibe.“53