Geschichte der Kirche
31 Die verlorenen Fäden des Lebens


„Die verlorenen Fäden des Lebens“, Kapitel 31 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 31: „Die verlorenen Fäden des Lebens“

Kapitel 31

Die verlorenen Fäden des Lebens

Mann in gestreifter Sträflingskleidung

An einem kalten Tag im Januar 1879 nahm Ovando Hollister in John Taylors Büro Platz. Ovando war Steuerbeamter im Territorium Utah und verfasste bisweilen Artikel für eine Zeitung in den Oststaaten. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Fall George Reynolds hatte die Zeitung Ovando beauftragt, in Erfahrung zu bringen, was John, der dienstälteste Apostel, von dem Beschluss hielt.

Eigentlich gab John keine Presseinterviews, aber da es ein Staatsbediensteter war, der ihn darum gebeten hatte, fühlte er sich verpflichtet, seine Ansichten über Religionsfreiheit und das Urteil des Obersten Gerichtshofs zu äußern. „Ein religiöser Glaube ist nichts wert, wenn man ihn nicht auch in die Tat umsetzen darf“, erklärte er Ovando. Die Entscheidung des Gerichtshofs sei ungerecht, so John, denn sie beschränke das Recht der Heiligen, ihren Glauben auszuüben. „Ich bin überzeugt, dass weder der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten noch der Kongress das Recht haben, sich in meine religiösen Ansichten einzumischen“, sagte er.

Ovando wollte wissen, ob es die Sache denn wert sei, weiterhin die Mehrehe zu praktizieren, wenn dies den ständigen Widerstand der Regierung zur Folge habe.

„Bei allem Respekt, aber die Feindseligkeit geht nicht von uns aus“, entgegnete John. Er war überzeugt, die Verfassung der Vereinigen Staaten wahre das Recht der Heiligen, in Mehrehe zu leben. Es sei überhaupt erst zu diesen Spannungen zwischen der Kirche und dem Land gekommen, weil der Kongress ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet habe, meinte John. „Nun stellt sich uns die Frage, ob wir Gott oder den Menschen gehorchen wollen“, sagte er.

„Könnten Sie nicht konsequent auf die Mehrehe verzichten?“, wollte Ovando wissen. „Es besteht ja keinerlei Aussicht auf einen Meinungsumschwung oder eine Änderung der Landesgesetze.“ Er glaubte nicht, dass die Kirche lange überleben könne, wenn sie sich weiterhin den Gesetzen gegen die Polygamie widersetzte.

„Das überlassen wir Gott“, erwiderte John. „Es obliegt ihm, sich um seine Heiligen zu kümmern.“1


Im Frühjahr begann für Susie Young der Schulalltag an der Brigham-Young-Akademie morgens um halb neun. Die Schüler trafen sich in einem einstöckigen Backsteingebäude, das an der Hauptstraße von Provo lag. Die Altersspanne reichte von kleineren Kindern bis hin zu Frauen und Männern in den Zwanzigern. Die meisten waren es nicht gewohnt, dass die Schule täglich stattfand und pünktlich begann. Direktor Karl Mäser war jedoch sehr auf Pünktlichkeit bedacht.2

Susie genoss die Zeit an der Akademie sehr. Einer ihrer Klassenkameraden, James Talmage, war vor kurzem aus England eingewandert und begeisterte sich für Naturwissenschaften. Ein anderer, Joseph Tanner, arbeitete in der Wollspinnerei in Provo und hatte Direktor Mäser überredet, Abendkurse für die Fabrikarbeiter einzurichten.3 Abraham Smoot, der Leiter der Wollspinnerei, führte auch den Vorsitz im Vorstand der Akademie. Seine Tochter Anna Christina unterrichtete die jüngeren Schüler ein paar Stunden am Tag, während sie gleichzeitig ihre eigene Fortbildung weiterverfolgte. Ihr jüngerer Bruder Reed besuchte ebenfalls die Akademie und bereitete sich auf eine Karriere in der Geschäftswelt vor.4

Direktor Mäser förderte die Liebe seiner Schüler zum Evangelium und auch zur Bildung. Brigham Young hatte ihm aufgetragen, die Bibel, das Buch Mormon und das Buch Lehre und Bündnisse als Standardlehrwerke zu verwenden. Die Schüler belegten neben den üblichen akademischen Fächern auch Kurse über die Grundsätze des Evangeliums. Jeden Mittwochnachmittag rief Direktor Mäser alle Schüler zu einer Andacht zusammen. Nach einem Gebet gaben sie Zeugnis und berichteten, was sie im Unterricht lernten.5

Wie vor einigen Jahren, als er Privatlehrer im Haus der Familie Young gewesen war, spornte Direktor Mäser Susie an, ihr Potenzial zu entfalten. Er ermunterte sie zum Schreiben und hielt sie dazu an, ein hohes Niveau anzustreben. Auch betraute er sie damit, bei den Andachten offiziell Protokoll zu führen.

Da es in Utah nur wenige ausgebildete Lehrkräfte gab, ließ Direktor Mäser oft auch ältere Studenten unterrichten. Als er eines Tages nach der Schule mit Susie und ihrer Mutter Lucy nach Hause ging, blieb er plötzlich mitten auf der Straße stehen.

„Ist Miss Susie ausreichend musikalisch gebildet, um unterrichten zu können?“, fragte er.

„Aber natürlich“, erwiderte Lucy. „Sie gibt Unterricht, seit sie vierzehn ist.“

„Das ist gut zu wissen!“, meinte der Direktor.

Schon ein paar Tage später hatte Susie damit begonnen, auf Weisung von Direktor Mäser die Musikfakultät der Akademie aufzubauen. Da es an der Akademie kein Klavier gab, kaufte sie eines, auf dem sie und ihre Schüler spielen konnten. Als sie erst einmal einen Unterrichtsraum hatte, half James Talmage ihr dabei, einen Stundenplan für den regulären Unterricht, für Konzertproben sowie für Einzelunterricht aufzustellen. Die meiste Zeit verbrachte sie also nun als Musiklehrerin.6

Auch wenn es Susie an der Akademie sehr gefiel, hatte sie immer noch Mühe, ihre Scheidung zu verkraften. Ihr Sohn Bailey lebte bei ihr in Provo, aber ihr ehemaliger Mann hatte ihre Tochter Leah zu seiner Familie am Bear Lake geschickt, zweihundertfünfzig Kilometer nördlich. Susie befürchtete, ihr Leben ruiniert zu haben, und fragte sich, ob sie jede Aussicht auf Glück verspielt hatte.

Vor kurzem hatte sie mit Jacob Gates, einem Freund aus St. George, der gerade als Missionar in Hawaii war, einen Briefwechsel aufgenommen. Anfangs war es ein rein freundschaftlicher Austausch gewesen, doch inzwischen vertrauten sie und Jacob einander immer mehr an. Susie teilte ihm mit, wie sehr sie ihre erste Ehe bereute, wie viel Freude ihr die Akademie bereitete und wie gern sie mehr aus sich machen würde, als nur Musikunterricht zu geben.

„Nein, Jake, eine Lehrerin werde ich nicht bleiben“, schrieb sie in einem Brief. „Hoffe doch, eines Tages eine Schriftstellerin zu sein. Ich muss nur genug lernen.“

Nach Semesterende wollte Susie mit Zina Young, einer der Witwen ihres Vaters, die sie auch als ihre „zweite Mutter“ bezeichnete, nach Hawaii reisen und die Frauenhilfsvereinigungen dort besuchen. Sie hoffte, während ihres Aufenthaltes auch Jacob zu begegnen. Auch wenn sie befürchtete, das Leben sei an ihr vorübergezogen, glaubte sie noch immer daran, dass Gott im Himmel sie nicht vergessen hatte.

„Gott ist gütig“, schrieb sie an Jacob. „Er wird mir helfen, die verlorenen Fäden des Lebens wieder aufzunehmen und daraus etwas Nützliches zu erschaffen.“7


Nach einer viertägigen Zugfahrt erreichte George Reynolds das Staatsgefängnis von Nebraska, fast fünfzehnhundert Kilometer östlich von Salt Lake City, wo er seine zweijährige Haftstrafe wegen Bigamie antreten musste. Dort angekommen, beschlagnahmten die Wärter alles, was er besaß, auch seine Kleidung und seine Garments. Nachdem er sich gewaschen hatte, schnitten sie ihm die Haare kurz und rasierten ihm den Bart ab.

Man wies ihm eine Zelle zu und gab ihm ein raues Hemd, ein Paar Schuhe, eine Mütze und blau-weiß-gestreifte Sträflingskleidung. Dreimal täglich musste Reynolds mit den anderen Insassen schweigend zur Essensausgabe marschieren. Dort nahm er seine Mahlzeit in Empfang, die er dann allein in der Zelle zu sich nehmen musste. Nach ein paar Tagen gaben die Gefängnisbeamten ihm seine Garments zurück, und er war dankbar, dass man seine Glaubensansichten wenigstens in dieser Hinsicht respektierte.

Zehn Stunden am Tag, sechsmal die Woche, arbeitete Reynolds als Buchhalter im Strickwarenladen des Gefängnisses. Sonntags besuchte er einen kurzen Gottesdienst, der für die Sträflinge abgehalten wurde. Die Vorschriften gestatteten ihm, seinen Frauen Mary Ann und Amelia einmal alle zwei Wochen zu schreiben. Er bat sie, ihm so oft wie möglich zu schreiben, aber daran zu denken, dass man ihre Briefe öffnen und lesen würde, bevor man sie ihm übergab.8

Nach einem Monat verlegte man Reynolds in das Territorialgefängnis in Utah, wofür sich George Q. Cannon in Washington eingesetzt hatte.9

Als Reynolds in Ogden in den Zug nach Salt Lake City umstieg, schloss seine Familie ihn in die Arme. Seine kleineren Kinder erkannten ihn ohne den Bart nicht wieder.

„Ich kann euch versichern, dass es weitaus Schlimmeres auf der Welt gibt, als aus Gewissensgründen im Gefängnis zu sein“, schrieb Reynolds seiner Familie später. „Das raubt mir nicht den Frieden, der in meinem Herzen wohnt.“10


Im Sommer predigten der zweiundzwanzigjährige Rudger Clawson und sein Missionsgefährte Joseph Standing in einer ländlichen Gegend in Georgia in den Südstaaten. Rudger, der im Büro von Brigham Young Sekretär gewesen war, befand sich noch nicht lange auf Mission. Der vierundzwanzigjährige Joseph hingegen hatte bereits eine Mission erfüllt und präsidierte derzeit über die dortigen Zweige der Kirche.11

Ihr Einsatzgebiet war im Bürgerkrieg verwüstet worden, und viele Einheimische begegneten Fremden mit großem Argwohn. Seit dem Urteil im Fall George Reynolds war man dort den Heiligen der Letzten Tagen gegenüber sogar noch feindseliger gestimmt. Prediger und Zeitungen verbreiteten Gerüchte über die Ältesten, und der Pöbel drang in Häuser ein, wo man die „Mormonenmissionare“ als Gäste vermutete.

Joseph graute es davor, dass eine Meute ihn zu fassen bekam, da die Opfer manchmal an einen Stamm gefesselt und ausgepeitscht wurden. Er erklärte Rudger, lieber würde er sterben, als sich auspeitschen zu lassen.12

Am 21. Juli 1879 waren Rudger und Joseph am Vormittag unterwegs, als ihnen ein Dutzend Männer auf der Straße entgegenkamen. Drei Männer saßen hoch zu Ross, die übrigen gingen zu Fuß. Jeder trug eine Waffe oder einen Knüppel bei sich. Die Missionare blieben stehen, während die Männer sie schweigend beobachteten. Plötzlich warfen die Männer mit einer raschen Bewegung ihren Hut beiseite und gingen auf die Missionare los. „Ihr seid unsere Gefangenen!“, brüllte einer von ihnen.

„Wenn ihr einen Haftbefehl habt, würden wir den gerne sehen“, entgegnete Joseph. Er sprach laut und deutlich, war jedoch bleich.

„Die Vereinigten Staaten von Amerika sind gegen euch“, rief einer der Männer. „Kein Gesetz in Georgia schützt die Mormonen.“

Mit erhobenen Waffen drängte die Horde die Missionare tief in den umliegenden Wald. Joseph versuchte, mit den Anführern zu reden. „Wir haben nicht die Absicht, in diesem Teil des Staates zu bleiben“, sagte er. „Wir predigen, was wir für die Wahrheit halten, und überlassen es dann den Zuhörern, ob sie es annehmen oder nicht.“

Seine Worte zeigten keine Wirkung. Bald schon teilten sich die Männer auf, und ein paar von ihnen brachten Rudger und Joseph an eine Stelle nahe einer Quelle klaren Wassers.

„Ihr sollt wissen, dass ich diese Gruppe anführe“, verkündete ein älterer Mann. „Wenn wir euch in diesem Teil des Landes jemals wiedersehen, knüpfen wir euch auf wie Hunde!“

Zwanzig Minuten lang mussten sich die Missionare Anschuldigungen anhören, sie seien nach Georgia gekommen, um die Frauen und Töchter der Männer nach Utah zu verschleppen. Viele Gerüchte, die man im Süden über die Missionare verbreitete, gründeten auf völlig falschen Vorstellungen von der Mehrehe, und manche Männer fühlten sich moralisch verpflichtet, die Frauen in ihrer Familie um jeden Preis zu beschützen.

Das Gespräch endete, als die drei Reiter ebenfalls zur Quelle kamen. „Folgt uns“, sagte ein Mann, der ein Gewehr trug.

Joseph sprang auf. Wollten sie ihn auspeitschen? Einer der Männer hatte seine Pistole auf einen Baumstumpf gelegt, und Joseph nahm sie schnell an sich.

„Ergebt euch!“, schrie er die Horde an.

Ein Mann links von Joseph richtete sich auf und schoss ihm ins Gesicht. Einen Augenblick lang rührte Joseph sich nicht, dann taumelte er und brach auf dem Waldboden zusammen. Rauchschwaden und Staub wirbelten um ihn auf.

Der Anführer zeigte auf Rudger. „Erschießt ihn!“, rief er. Rudger sah sich um. Jeder bewaffnete Mann zielte auf seinen Kopf.

„Dann schießt“, sagte Rudger und verschränkte die Arme. Seine Augen standen offen, aber die Welt um ihn schien sich zu verfinstern.

„Nein, schießt nicht“, änderte der Anführer der Meute seine Meinung. Die anderen Männer senkten die Waffen, und Rudger kniete neben seinem Gefährten nieder. Joseph war auf den Rücken gerollt. Auf seiner Stirn klaffte eine große Schusswunde.

„Ist das nicht furchtbar, dass er sich selbst erschießen musste?“, rief einer der Männer.

Was sich hier zugetragen hatte, war Mord, kein Selbstmord. Dennoch traute sich Rudger nicht, dem Mann zu widersprechen. „Ja, es ist furchtbar“, erwiderte er. „Wir müssen Hilfe holen!“ Niemand bewegte sich, und Rudger wurde unruhig. „Ihr müsst selbst gehen oder mich gehen lassen!“, beharrte er.

„Dann geh los und hol Hilfe“, meinte ein Mann.13


Am 3. August, einem Sonntag, blickte John Taylor vom Pult des Tabernakels in Salt Lake City in zehntausend ernste Gesichter. Das Podium hinter ihm war in schwarzen Stoff gehüllt und mit Blumengestecken verziert. Alle Priestertumsträger saßen als Kollegien beisammen, und die übrigen Heiligen hatten die restlichen Plätze unten und auf der Empore eingenommen. In der Nähe des Podiums war der mit Blumen geschmückte Sarg Joseph Standings für alle Anwesenden sichtbar aufgebahrt.14

Nachdem der Pöbel Rudger Clawson hatte gehen lassen, war dieser in die Nähe zu einem Bekannten geflohen und hatte in einem Telegramm nach Salt Lake City von dem Mord an Joseph berichtet. Dann war er mit einem Leichenbeschauer an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt, um den Leichnam seines Gefährten zu holen, der mittlerweile von weiteren Kugeln entstellt war. Anderthalb Wochen später brachte Rudger den Leichnam in einer schweren Metallkiste mit dem Zug zurück nach Utah. Die Nachricht von dem Mord hatte sich rasch im ganzen Territorium verbreitet.15

John teilte die Empörung und Trauer der Heiligen. Jedoch meinte er, man solle nicht nur trauern, sondern auch stolz sein. Joseph war in Rechtschaffenheit für die Sache Zions gestorben. Seine Ermordung konnte den Fortschritt des Gotteswerkes nicht aufhalten.16 Die Heiligen würden auch weiterhin Tempel errichten, in alle Welt Missionare aussenden und die Grenzen Zions weiter ausdehnen.

Unter der Führung Brigham Youngs hatten die Heiligen im Westen der Vereinigten Staaten hunderte Siedlungen gegründet und sich von Utah bis in die Nachbarstaaten Nevada, Wyoming, New Mexico und Idaho ausgebreitet. In seinem letzten Lebensjahr hatte Brigham zweihundert Kolonisten beauftragt, sich am Little Colorado River im Nordosten Arizonas anzusiedeln.

Und gerade erst hatten sich siebzig Bekehrte aus den Südstaaten auf die Aufforderung John Taylors hin den Siedlern aus Skandinavien angeschlossen und sich im Nachbarstaat Colorado an einem Ort namens Manassa niedergelassen. Im Südosten Utahs durchquerte derzeit eine große Gruppe Heiliger die tiefen Schluchten des Landes, um sich am San Juan River häuslich einzurichten.17

John wusste, dass die Grundsätze der Wahrheit trotz der unheiligen Hände, die sie niederschlagen wollten, die Welt weiter erfüllen würden. „Man mag unseren Besitz von uns fordern, man mag unser Blut fordern, genauso wie man es zu jeder anderen Zeit getan hat“, verkündete er. „Aber im Namen des Gottes Israels wird Zion weiter vorankommen und gedeihen!“18


Der Wind fegte über die Tarofelder, als Zina und Susie Young in einer Kutsche die Berghöhen der Insel Oahu überquerten. Zina und Susie befanden sich auf dem Weg von Honolulu nach Laie, dem Sammlungsort der hawaiianischen Heiligen. Die Straße auf der anderen Seite der Hänge war so steil, dass an einer Seite eine Eisenstange angebracht worden war, um Reisende vor einem Sturz zu bewahren. Außerdem mussten zwei Männer die Kutsche mit einem starken Tau abfangen, während sie ins grüne Tal hinunterfuhr.19

Die Kirche hatte auf den Inseln mittlerweile festen Fuß gefasst, ungefähr jeder zwölfte Hawaiianer gehörte zu den Heiligen der Letzten Tage.20 Als Zina und Susie Laie erreichten, empfingen die Heiligen sie mit einem Banner und mit Musik und Tanz. Sie baten die Besucherinnen, Platz zu nehmen, reichten ihnen zur Begrüßung etwas zu essen und sangen ein Lied, das sie eigens zu diesem Anlass geschrieben hatten.

Während sich Zina auf den zweimonatigen Aufenthalt einstellte, lernte sie Mitglieder kennen, die wie sie zu den bereits ergrauten Pionieren gehörten. Zu ihnen zählte auch die Leiterin der Frauenhilfsvereinigung, Mary Kapo, die Schwägerin des standhaften einheimischen Missionars und Führers der Kirche Jonathan Napela. Napela war Anfang des Sommers auf Molokai gestorben, bis zum Ende unerschütterlich in seinem Zeugnis. Nur zwei Wochen später war ihm seine Frau Kitty gefolgt.21

Zina genoss die Zeit bei den Heiligen in Hawaii. Zusammen mit Susie kam sie oft mit der Frauenhilfsvereinigung und den jungen Damen zusammen. Bei der ersten Zusammenkunft brachten die einheimischen Schwestern eine Melone, einen kleinen Sack Süßkartoffeln, eine Gurke, ein paar Eier, einen Fisch und einen Kohlkopf mit. „Zuerst dachte ich, die Spende sei für die Armen, aber sie war ein Zeichen ihrer Freundschaft mit uns“, schrieb Zina in ihr Tagebuch.22

Eines Abends kamen ein paar Heilige bei einem Mitglied zusammen. Zina hatte für die Heiligen in Laie eine Orgel gekauft, und nun spielte Jacob Gates, der Missionar, mit dem Susie befreundet war, darauf das Lied „O mein Vater“. Als Zina dem Gesang der Einheimischen lauschte, dachte sie an ihre Freundin Eliza Snow, die das Lied vor vielen Jahren in Nauvoo geschrieben hatte. Darin war von den Eltern im Himmel die Rede und von weiteren Wahrheiten, die Zina zum ersten Mal vom Propheten Joseph Smith gehört hatte. Nun sang man das Lied in einem ganz anderen Teil der Welt.23

Drei Tage später machten Susie und Jacob einen Ausflug die Schlucht hinauf. Zwei Wochen zuvor hatte Susie Jacob, der an dem Tag missioniert und sich nicht in Laie aufgehalten hatte, einen kurzen Liebesbrief geschrieben.

„Ich denke jetzt gerade an dich oben auf den Hügeln“, waren ihre Worte gewesen. „Wünschst du dir so wie ich, du müsstest heute nicht arbeiten und wir könnten über die Zukunft reden und auf tausenderlei Weise zum Ausdruck bringen, was uns bewegt?“24

Während Susie und Jacob also einander den Hof machten, wollte Zina gemeinsam mit den einheimischen Heiligen des zweiten Todestages von Brigham Young gedenken. Am 29. August kamen die Mitglieder aus ganz Laie mit ihr und Susie zu dem Gedenktag zusammen. Die Jungen und Mädchen dekorierten das Gemeindehaus, die Schwestern der Frauenhilfsvereinigung besorgten für das Festessen Rindfleisch, und andere Heilige hoben eine Grube aus, in der das Fleisch gegart werden sollte.

Zina freute sich über ihren Tatendrang. Sie ehrten damit nicht nur ihren verstorbenen Mann, sondern auch die Grundsätze, die er so eifrig unter den Heiligen gefördert hatte.

Am nächsten Sonntag gründete Zina mit dreißig Schwestern eine neue Frauenhilfsvereinigung. Tags darauf reisten sie und Susie ab. Als sie sich immer weiter von der Insel entfernten, fragte Zina Susie, ob sie sich darüber freute, nun nach Hause zu fahren. Susie war hin und her gerissen. Sie konnte es kaum abwarten, ihre Kinder wiederzusehen, aber sie sehnte sich auch nach dem Mann, den sie zu heiraten hoffte.

„Ich wünschte, ich könnte mich selbst in einen Umschlag stecken und zu dir schicken lassen“, schrieb sie Jacob auf der Reise. „Ich kann dich jetzt nicht sehen, und so kann ich nur dasitzen und immerzu von der glücklichen Vergangenheit und der segensreichen Zukunft träumen.“25


Meliton Trejo lebte im Süden Arizonas, als ihn Präsident Taylor dazu berief, eine Mission in Mexiko-Stadt zu erfüllen. Über drei Jahre waren vergangen, seitdem sich Meliton von den ersten Missionaren verabschiedet hatte, die nach Mexiko aufgebrochen waren. Unterwegs hatten die Missionare hunderte Auszüge des Buches Mormon verteilt, die Meliton übersetzt hatte. Schon bald hatten die Führer der Kirche Briefe erhalten, in denen die Leser der Trozos selectos um mehr Missionare baten.

Meliton hatte sich bei der Übersetzungsarbeit bewährt und bereitete sich nun darauf vor, James Stewart und den gerade erst berufenen Apostel Moses Thatcher in die Hauptstadt Mexikos zu begleiten.

Die drei Missionare trafen sich im November in New Orleans, wo sie ein Dampfschiff nach Veracruz nahmen. Von dort reisten sie mit dem Zug nach Mexiko-Stadt.26 Am Tag nach ihrer Ankunft kam Plotino Rhodakanaty, der Anführer von etwa zwanzig Leuten, die an das Evangelium glaubten, zu ihnen ins Hotel. Plotino, der aus Griechenland stammte, hieß sie herzlich willkommen. Seine Briefe an Präsident Taylor hatten entscheidend dazu beigetragen, die Apostel davon zu überzeugen, dass sie Missionare in die Stadt entsenden sollten.27 Während Plotino auf sie gewartet hatte, hatten er und die übrigen ungetauften Bekehrten eine Zeitung über das wiederhergestellte Evangelium gegründet, die sie La voz del desierto nannten – die Stimme der Wildnis.28

Später in der Woche begaben sich die Missionare zu einem ruhig gelegenen Olivenhain außerhalb der Stadt, und Moses taufte Plotino und dessen Freund Silviano Arteaga in einer warmen Quelle. „Die ganze Natur lächelte uns zu, und ich bin sicher, dass Engel über uns frohlockten“, schrieb Moses in sein Tagebuch.29

Innerhalb weniger Tage hatte Meliton sechs weitere Leute getauft. Die Missionare gründeten einen Zweig und hielten in Plotinos Haus Versammlungen ab. Sie unterwiesen einander im Evangelium und spendeten Krankensegen. Moses berief Plotino zum Zweigpräsidenten und Silviano und einen weiteren Bekehrten namens Jose Ybarola zu dessen Ratgebern.

Nachdem sich die Missionare ausgiebig beraten und darüber gebetet hatten, beschlossen sie, Parley P. Pratts Broschüre Eine warnende Stimme und weitere Missionsschriften der Kirche zu übersetzen. Aber die Mitgliedschaft in der Kirche hatte manchmal ihren Preis, wie Plotino bald feststellen musste. Er verlor nämlich seine Anstellung als Lehrer, weil er seinen neuen Glauben nicht verleugnen wollte. Dennoch wuchs der kleine Zweig, und Missionare wie Bekehrte verspürten gleichermaßen, dass sie Teil einer großen Sache waren.

Am 8. Januar 1880 stellten Meliton, James und Plotino die Übersetzung der Missionsschrift Eine warnende Stimme fertig. Ein paar Tage später schrieb Moses an Präsident Taylor und berichtete vom Fortschritt der Mission.

„Wir werden jede Gelegenheit nutzen, uns nützliches Wissen anzueignen, und zugleich nichts unversucht lassen, die Erkenntnis der Wahrheiten des Evangeliums weiterzuverbreiten“, versicherte er John. „Und wir glauben, dass der Herr uns dabei geholfen hat und uns auch weiterhin helfen wird.“30