Er sammelt seine Kinder
Ravensburg (JW): Ich lernte die Kirche 1954 in Dębnica Kaszubska (ehemals Rathsdamnitz) kennen, einem Dorf in Hinterpommern (Polen). Meine Eltern interessierten sich für Religion und trafen auf das Ehepaar Porozyński, die einzigen Mitglieder der Kirche im Ort. Sie diskutierten religiöse Themen, und ich lauschte diesen Diskussionen gelegentlich. Neben der Bibel besaßen Porozyńskis auch ein Buch Mormon, in dem ein Vers meine Eltern besonders ansprach: „Und er sammelt seine Kinder von den vier Enden der Erde …“ (1 Ne 22:25). Mein Vater Heinz Staubach berichtete über jene Zeit: „Wir trafen uns weiter regelmäßig mit der Familie Porozyński und studierten gemeinsam in den heiligen Schriften. Da es in unserer Umgebung keine Gemeinde der Kirche gab, versammelten wir uns jeden Sonntag und hielten eine Heimsonntagsschule ab. Die nächste Gemeinde war in Selbongen (Ostpreußen) und zirka dreihundert Kilometer von uns entfernt. Im Juli 1955 war es dann so weit, alle Vorbereitungen waren getroffen, meine Frau [Agatha] und unser Sohn [Reinhard] fuhren nach Selbongen und wurden getauft. Ich selber bin einen Monat später gefahren und wurde am 21. August 1955 in Selbongen getauft.“*
Selbongen (pol. Zełwągi) ist ein winziges Dorf bei Nikolaiken (pol. Mikołajki) mit etwa 350 Einwohnern. Die Kirche hatte damals ein eigenes Gemeindehaus im Ort. So ergab es sich, dass ich in einem der Masurischen Seen getauft wurde. Die Sonne schien an jenem warmen Sonntagmorgen. Ich stieg in glasklares Wasser. Auf dem Seegrund lagen aufgeplatzte Muscheln. Ich spüre heute noch deren scharfe Kanten unter meinen nackten Fußsohlen, verletzte mich aber nicht.
Mein Vater berichtete: „Die Religionsfreiheit war [damals] in Polen sehr begrenzt. Jeder, der nicht katholisch oder evangelisch war, war den Parteigenossen ein Dorn im Auge. Auch wir durften uns nicht offiziell versammeln. Die Kirche wurde zwar geduldet, war aber nicht anerkannt. Wenn ich mit meiner Frau und unseren Kindern die Familie Porozyński besuchte, um gemeinsam in der Schrift zu studieren, gingen wir mit einem zeitlichen Abstand nur zu zweit oder dritt dorthin, um Aufsehen zu vermeiden.“* Die Treffen blieben den Behörden jedoch nicht verborgen. Mein Vater wurde einmal fünf Stunden polizeilich verhört und berichtete: „Ich habe bei dieser Vernehmung mein Zeugnis geben können; die beiden Beamten haben sich nur angeschaut, keiner sagte ein Wort dazu.“* – Es ergaben sich nach dem Verhör keine unangenehmen Folgen für unsere Familie.
Ich erinnere mich sehr gerne an die Sonntagsschule bei Porozyńskis. Nach einer gemeinsamen Eröffnung mit Lied und Gebet kniete Bruder Antoni Porozyński (Priester) nieder, las die Abendmahlsgebete und mein Vater (Diakon) teilte Brot und Wasser aus. Danach trennten sich die Kinder von den Erwachsenen und wurden in einem anderen Raum oder bei schönem Wetter im Garten unterrichtet.
Anfang 1958 siedelten meine Eltern mit uns Kindern offiziell von Hinterpommern nach Deutschland um. In Glückstadt fanden wir eine neue Heimat und auch eine hervorragende Gemeinde der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Später diente mein Vater dort zehn Jahre als Gemeindepräsident, wie die Berufung damals offiziell hieß.
*) Reinhard Staubach (Hg.), „Dem Licht entgegen“, Seite 151 ff.