2021
Eine Vision von der Geisterwelt
Dezember 2021


Nur online: Geschichten aus der Reihe Heilige, Band 3

Eine Vision von der Geisterwelt

Der folgende Text ist ein Auszug aus Band 3 der Reihe Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, der 2022 erscheinen wird. Die hier beschriebenen Geschehnisse haben sich im Jahr 1918 zugetragen, nachdem Präsident Joseph F. Smiths Sohn Hyrum M. Smith unerwartet an einem Blinddarmdurchbruch verstorben war. Bereits wenige Monate nach Hyrums Tod starb auch seine Frau Ida Bowman Smith nach der Geburt ihres Kindes.

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Porträt von Joseph F. Smith

Joseph F. Smiths Angehörige informierten den Propheten nicht sofort über Idas Tod, denn sie befürchteten, die Nachricht werde ihn erdrücken. Seit Hyrums Tod war er gebrechlich, und in den letzten fünf Monaten war er in der Öffentlichkeit nur noch selten zu sehen gewesen. Aber am Tag nach Idas Tod brachte seine Familie Idas Neugeborenen zu Joseph, der Tränen vergoss, als er das Baby segnete und ihm den Namen Hyrum gab. Dann erzählte ihm die Familie von Ida.

Zur Überraschung aller nahm Joseph die Nachricht gelassen auf.1 So viel Leid und Schmerz waren in letzter Zeit über die Welt hereingebrochen. Die Tageszeitungen enthielten entsetzliche Berichte über den Krieg. Millionen von Soldaten und Zivilisten waren bereits getötet worden, und weitere Millionen waren verwundet oder verstümmelt worden. Zu Sommerbeginn waren die Soldaten aus Utah in Europa angekommen und waren Zeugen der unerbittlichen Brutalität des Krieges geworden.

Zu all dem war eine tödliche Grippewelle ausgebrochen, die überall auf der Welt Menschenleben forderte, was den Schmerz und das Leid des Krieges noch verstärkte. Das Virus verbreitete sich mit einer besorgniserregenden Geschwindigkeit, und Utah stand wenige Tage vor der Schließung sämtlicher Theater, Kirchen und anderer öffentlicher Plätze – in der Hoffnung, dadurch die Welle von Krankheit und Tod einzudämmen.2

Am 3. Oktober 1918 saß Joseph in seinem Zimmer und dachte über das Sühnopfer Jesu Christi und die Erlösung der Welt nach. Er schlug das Neue Testament bei 1 Petrus auf und las, wie der Erretter den Geistern in der Geisterwelt gepredigt hatte. „Denn auch Toten ist das Evangelium dazu verkündet worden, dass sie zwar wie Menschen gerichtet werden im Fleisch, aber wie Gott das Leben haben im Geist“, las er.

Während der Prophet so über das Schriftwort nachsann, spürte er, wie der Geist des Herrn auf ihn herabkam und seinem Verständnis die Augen aufgingen. Er sah Scharen von Toten in der Geisterwelt. Rechtschaffene Frauen und Männer, die vor dem irdischen Wirken des Erretters gestorben waren, warteten dort freudig auf seine Ankunft und dass er ihnen Befreiung von den Banden des Todes verkünde.

Der Erretter erschien der Menge, und die rechtschaffenen Geister freuten sich über ihre Erlösung. Sie knieten vor ihm nieder und nannten ihn ihren Erlöser und Befreier vom Tod und von den Ketten der Hölle. Ihr Antlitz leuchtete, während das Licht aus der Gegenwart des Herrn sie umstrahlte. Sie lobsangen seinem Namen.3

Joseph staunte über die Vision und dachte erneut über die Worte des Petrus nach. Die Schar der ungehorsamen Geister war doch viel größer als die Schar der rechtschaffenen Geister. Wie sollte der Erretter während seines kurzen Besuchs in der Geisterwelt wohl allen sein Evangelium verkünden?4

Da wurden Josephs Augen abermals geöffnet, und er verstand, dass der Erretter nicht persönlich zu den ungehorsamen Geistern ging. Aus den rechtschaffenen Geistern stellte er seine Kräfte zusammen, bestimmte Boten und beauftragte sie, die Botschaft des Evangeliums zu den Geistern in der Finsternis zu tragen. Somit konnten alle Menschen, die in Übertretung oder ohne Kenntnis der Wahrheit gestorben waren, etwas über den Glauben an Gott, die Umkehr, die stellvertretende Taufe zur Sündenvergebung, die Gabe des Heiligen Geistes und alle anderen unverzichtbaren Grundsätze des Evangeliums lernen.

Beim Blick auf die riesige Versammlung der rechtschaffenen Geister sah Joseph dort auch Adam und dessen Söhne Abel und Set. Er sah Eva bei ihren treuen Töchtern stehen, die Gott über die Jahrhunderte hinweg verehrt hatten. Noach, Abraham, Isaak, Jakob und Mose waren ebenfalls dort, zusammen mit Jesaja, Ezechiel, Daniel und anderen Propheten aus dem Alten Testament und dem Buch Mormon. Außerdem war dort der Prophet Maleachi, der prophezeit hatte, Elija werde kommen, um die Verheißungen, die den Vätern gemacht worden waren, den Kindern ins Herz zu pflanzen und so den Weg für die Tempelarbeit und die Erlösung der Toten in den Letzten Tagen zu bereiten.5

Joseph F. Smith sah auch Joseph Smith, Brigham Young, John Taylor, Wilford Woodruff und andere, die die Grundlage der Wiederherstellung gelegt hatten. Unter ihnen befand sich auch sein Vater Hyrum Smith, der Märtyrer, dessen Gesicht er seit vierundsiebzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie alle gehörten zu den edlen und großen Geistern, die vor dem Erdenleben auserwählt worden waren, um in den Letzten Tagen hervorzukommen und für die Errettung aller Kinder Gottes zu wirken.

Dem Propheten wurde in der Folge klar, dass die treuen Ältesten dieser Evangeliumszeit ihre Arbeit im nächsten Leben fortsetzten, indem sie den Geistern, die sich in Finsternis und unter der Knechtschaft der Sünde befanden, das Evangelium verkündigten.

„Die Toten, die umkehren, werden erlöst werden, indem sie die Verordnungen des Hauses Gottes beachten“, schrieb er, „und sobald sie die Strafe für ihre Übertretungen bezahlt haben und reingewaschen sind, werden sie gemäß ihren Werken einen Lohn empfangen, denn sie sind Erben der Errettung.“6

Als die Vision zu Ende war, dachte Joseph über alles nach, was er gesehen hatte. Am nächsten Morgen überraschte er die Heiligen damit, dass er trotz seines schlechten Gesundheitszustands an der ersten Versammlung der Herbst-Generalkonferenz teilnahm. Er war entschlossen, zu den Anwesenden zu sprechen, stand aber wackelig am Pult, während sein großer Körper vor Anstrengung zitterte. „Seit mehr als siebzig Jahren habe ich mit euren Vätern und Vorfahren in diesem Werk gearbeitet“, sagte er, „und mein Herz ist heute genauso fest mit euch verbunden, wie es das immer war.“7

Da ihm die Kraft fehlte, über seine Vision zu sprechen, ohne von Gefühlen übermannt zu werden, sprach er nur ansatzweise davon. „Ich habe die letzten fünf Monate nicht allein verbracht“, sagte er den Anwesenden. „Ich verweilte im Geist des Gebets, des Flehens, des Glaubens und der Entschlossenheit; und ich hatte fortwährend Verbindung mit dem Geist des Herrn.

Ich bin glücklich, heute Morgen bei euch zu sein“, sagte er. „Möge der allmächtige Gott euch segnen!“8

Anmerkungen

  1. Whitney, Tagebuch, 3. Oktober 1918; Heber J. Grant an Reed Smoot, 25. September 1918; Heber J. Grant an George F. Richards, 27. September 1918; Heber J. Grant an Richard W. Young, 1. Oktober 1918, Heber J. Grant Collection, Historisches Archiv der Kirche

  2. Tate, „Great World of the Spirits of the Dead“, Seite 5–40; Alford, „Calvin S. Smith“, Seite 254–269; Madsen, Defender of the Faith, Seite 301–314; Dehner, Influenza, Seite 42–50; Brown, Influenza, Seite 43–58; „Preparing Here for Spanish Influenza“, Salt Lake Tribune, 4. Oktober 1918, Seite 20; „State Board of Health Issues Drastic Order“, Salt Lake Telegram, 9. Oktober 1918, Seite 1; Thema: Grippepandemie 1918

  3. 1 Petrus 3:18-20; 4:6; Lehre und Bündnisse 138:1-24; Bennett, „Joseph F. Smith, World War I, and His Visions of the Dead“, Seite 126

  4. Lehre und Bündnisse 138:25-28

  5. Lehre und Bündnisse 138:29-48; siehe auch Lehre und Bündnisse 110:13-15; Maleachi 3:23,24

  6. Lehre und Bündnisse 138:49-59; siehe auch Abraham 3:22; Themen: Joseph F. Smith, Vision von der Erlösung der Toten

  7. „Prest. Joseph F. Smith Greets Thousands at Semi-annual Conference“, Deseret Evening News, 4. Oktober 1918, Seite 1; Joseph F. Smith, in: Eighty-Ninth Semi-annual Conference, Seite 2; Wells, Tagebuch, Band 44, 4. Oktober 1918

  8. Joseph F. Smith, in: Eighty-Ninth Semi-annual Conference, Seite 2; Susa Young Gates an Elizabeth Claridge McCune, 14. November 1918, Susa Young Gates Papers, Historisches Archiv der Kirche

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