„Gib mir die Kraft“, Kapitel 10 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 10: Gib mir die Kraft
Kapitel 10
Gib mir die Kraft
Im Herbst 1911 kehrte Alma Richards an die Brigham-Young-Universität zurück. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, 1912 an den Olympischen Spielen in Stockholm teilzunehmen. Alma war ein einundzwanzig Jahre alter Hochspringer aus Parowan, einer Kleinstadt im Süden Utahs. Bevor er im Jahr zuvor an die Brigham-Young-Universität (BYU) ging, hatte er so gut wie nichts über die Olympischen Spiele gewusst. Sein Trainer sagte ihm jedoch, dass er eine Chance habe, an den Spielen teilzunehmen.
„Wenn du anderthalb Jahre konsequent trainierst“, sagte er, „schaffst du es in die Mannschaft.“
Zuerst dachte Alma, sein Trainer scherze. Alma war von Natur aus sportlich, aber er war größer und schwerer als die meisten Hochspringer. Und er hatte nicht sonderlich viel Erfahrung oder Übung in dieser Sportart. Anstatt – wie die meisten Springer – einen Schersprung auszuführen oder den Körper horizontal über die Latte zu rollen, katapultierte er sich ungelenk in die Luft und krümmte sich beim Sprung zu einem Ball zusammen.
Aber er nahm seinen Trainer beim Wort. Er trainierte regelmäßig und tat sich bei Leichtathletik-Turnieren in der Gegend immer mehr hervor. Schon bald gewann er überall in Utah Wettkämpfe.
Sportveranstaltungen erfreuten sich bei jungen Menschen in aller Welt einer immer größeren Beliebtheit, und viele Schulen und Hochschulen in Utah finanzierten Sportmannschaften für Jungen und auch für Mädchen. Und doch gab es innerhalb der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen jahrelang keine sportlichen Aktivitäten. Zur Enttäuschung vieler Jungen richtete die GFV Junger Männer ihre Treffen normalerweise auf das Studium religiöser oder intellektueller Themen aus einem Leitfaden aus.
Protestantische Gruppen in Salt Lake City hatten unterdessen begonnen, eine beliebte Turnhalle des Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA) zu nutzen, um junge Heilige der Letzten Tage letztlich auch für ihre Sonntagsschule zu gewinnen. Die Führer der Kirche waren besorgt und beschlossen, den Jugendlichen ähnliche Gelegenheiten zu bieten. Bald wurden bei den alljährlich stattfindenden gemeinsamen GFV-Konferenzen auch Sportwettkämpfe ausgetragen, und die Führungsverantwortlichen in Pfahl und Gemeinde wurden angehalten, den Jugendlichen die Mehrzweckräume der Gemeindehäuser für „leichtere sportliche Übungen“ zur Verfügung zu stellen. Im Jahr 1910, als Alma an die BYU ging, eröffnete die Kirche einen Block östlich vom Tempelplatz ein dreigeschossiges Gebäude als Sport- und Freizeiteinrichtung.
Da die Anwesenheit bei der GFV Junger Damen immer noch höher war als bei den Jungen Männern, wurde den Führern der Kirche klar, dass das aktuelle Programm die Jungen Männer nicht ansprach. Diese Erkenntnis kam zu einer Zeit, da die Aufgaben der Hilfsorganisationen und der Priestertumskollegien der Kirche näher beleuchtet und neu umrissen wurden. Im Jahr 1906 legte ein neu gebildetes „Korrelationskomitee“, das aus Vertretern der Hilfsorganisationen der Kirche bestand, fest, dass den Jungen Männern bei den Versammlungen des Aaronischen Priestertums auch Inhalte zur Lehre vermittelt werden sollen. Die Treffen der GFV Junger Männer hingegen sollten Verstand und Körper der Jugendlichen schulen. Somit wurden viele Junge Männer an Sport und Unternehmungen im Freien herangeführt.
Eugene Roberts, zugleich Almas Trainer und Leiter des Sportprogramms an der BYU, war ein angesehener Verfechter von Sportveranstaltungen innerhalb der Kirche. Wie viele andere Menschen damals war er der Ansicht, dass der technische Fortschritt und das Stadtleben im 19. Jahrhundert zu schnell vorangeschritten waren, wodurch die Jungen Männer nicht mehr in den Genuss der Vorteile von Bewegung und dem Aufenthalt in der freien Natur kamen. Er wies stets auf die Pioniere der Heiligen der Letzten Tage hin und ermunterte die Jungen Männer, die gleiche Arbeitsmoral und den gleichen religiösen Eifer an den Tag zu legen.
„Niemand kann etwas über die Entbehrungen der Pioniere und ihre religiösen Prüfungen lesen, ohne von Bewunderung ergriffen zu werden“, schrieb er 1911 in einer Ausgabe der Zeitschrift Improvement Era. „Der blasse Stadtjunge, der noch nie in der Wüste gezeltet oder die Wildnis hautnah erlebt hat, der noch nie über die Hügel gewandert ist oder mal auf alle Bequemlichkeiten verzichtet hat, kann die Mühen seiner Vorväter gar nicht richtig nachempfinden.“
Eugene und die Führer der GFV Junger Männer drängten die Kirche, ein Programm nach dem Vorbild der neu entstandenen Pfadfinderbewegung zu übernehmen, wo den Jungen Männern hohe sittliche Grundsätze beigebracht wurden und sie durch Zeltlager, Wanderungen und andere Aktivitäten im Freien körperlich und geistig gestärkt wurden. Ein weiterer Befürworter des Pfadfinderwesens war Lyman Martineau aus dem Hauptausschuss der GFV Junger Männer. Er hielt die Jugendleiter dazu an, Aktivitäten zur körperlichen Ertüchtigung durchzuführen. „Solche Aktivitäten“, erklärte er, „bieten, so sie richtig organisiert und begleitet werden, Erholung und fördern entschlossenen Mut, Begeisterung, geistige und sittliche Ziele und schaffen die Grundlage einer maßvollen Lebensweise.“
Alma Richards selbst war der Beweis dafür. Sein Wunsch, im Sport ausgezeichnete Leistungen zu erbringen, veranlasste ihn dazu, sich an das Wort der Weisheit zu halten, und das zu einer Zeit, da dieser Grundsatz in der Kirche zwar gutgeheißen, jedoch nicht konsequent verlangt wurde. Indem sich Alma von Alkohol und Tabak fernhielt, vertraute er auf die Verheißung des Herrn, dass diejenigen, die das Wort der Weisheit befolgen, „laufen und nicht ermüden“ und „gehen und nicht ermatten“ werden.
Im Frühjahr 1912 teilte Eugene Alma mit, dass er jetzt bereit sei, an der Auswahl für die olympischen Spiele teilzunehmen. „Du bist einer der fünfzehn besten Hochspringer der Welt“, sagte Eugene, „und einer der sieben besten aus den Vereinigten Staaten.“ Um Almas Reisekosten für die Teilnahme an den Ausscheidungswettkämpfen zu decken, setzte er sich bei der BYU dafür ein, dass der junge Sportler ein großzügiges Stipendium erhielt. Er selbst wollte Alma gern begleiten, hatte aber nicht genügend Geld für die Reise.
Schon bevor Alma Utah verließ, fühlte er sich ängstlich und einsam. Eugene verabschiedete ihn mit Worten, die ihm Mut machten und Halt gaben. Bevor Alma in den Zug stieg, überreichte ihm Eugene ein inspirierendes Gedicht, das ihm in schweren Zeiten Kraft und Glauben schenken sollte.
Ein paar Wochen später kam in Utah die Nachricht an, Alma habe es in die Olympiamannschaft geschafft und sei nun auf dem Weg nach Schweden.
Im Sommer 1912 erlebten mehr als viertausend Siedler der Heiligen der Letzten Tage im Norden Mexikos eine Revolution mit. Im Jahr zuvor war Porfirio Díaz, der langjährige Präsident Mexikos, von Rebellen gestürzt worden. Doch nun war ein weiterer Aufstand gegen die siegreichen Rebellen ausgebrochen.
Junius Romney, der vierunddreißigjährige Pfahlpräsident im nördlichen Mexiko, stellte klar, dass die Heiligen trotz des Konflikts ihre Häuser nicht aufgeben wollten. Seit viele Heilige in den 1880er Jahren wegen der Razzien auf Polygamisten nach Mexiko geflüchtet waren, hatten sie sich im Allgemeinen aus der mexikanischen Politik herausgehalten. Doch nun wurden sie von den Rebellen vielerorts als fremde Eindringlinge betrachtet, und die florierenden Rinderfarmen der Heiligen waren so manchem Überfall ausgesetzt.
In der Hoffnung, die Rebellen zu schwächen, verboten die Vereinigten Staaten den Verkauf von Waffen und Munition an Mexiko. Senator Reed Smoot überredete jedoch den US-Präsidenten William Howard Taft, zusätzliche Waffen an die Heiligen im Norden Mexikos zu schicken, damit diese ihre Siedlungen zu schützen vermochten. Es dauerte freilich nicht lange, bis die Rebellenführer von der Lieferung erfuhren und die Herausgabe der Schusswaffen forderten.
Da die Erste Präsidentschaft verhindern wollte, dass den Heiligen etwas zustößt, verständigten sich Junius und weitere Führer der Kirche aus dem Gebiet mit den Rebellen darauf, dass die Heiligen ihre Schusswaffen zur Selbstverteidigung behalten durften. Die Rebellenführer versprachen zudem, die Siedlungen unbehelligt zu lassen.
Am 27. Juli beorderte jedoch der Rebellengeneral José Inés Salazar Präsident Romney zusammen mit Henry Bowman, einem örtlichen Führer der Kirche und Geschäftsmann, in sein Hauptquartier. Er sagte Junius und Henry, dass er die Rebellen nicht länger davon abhalten könne, die Heiligen anzugreifen. Alarmiert erinnerte Junius den General daran, dass er sowohl mündlich als auch schriftlich die Zusage gegeben hatte, dass die Rebellen den Siedlungen nichts antun würden.
„Das waren doch nur Worte“, erwiderte der General, „und der Wind bläst sie einfach weg.“ Dann informierte er Junius und Henry, dass die Kolonien ihre Waffen abgeben müssten.
„Wir sind nicht berechtigt, unsere Waffen abzugeben“, erklärte Junius. Es gab in der Gegend etwa zweitausend Rebellen mit fünf oder sechs Kanonen, die gegen die Kolonien eingesetzt werden konnten. Würden die Heiligen ihre Waffen abgeben, wären sie wehrlos.
Der General war davon ungerührt, also erklärte Junius, dass er nicht die Befugnis habe, anzuordnen, dass die Heiligen ihr Privateigentum herausgeben. Als General Salazar das hörte, verließ er den Raum, um die Angelegenheit mit einem seiner Offiziere, Oberst Demetrio Ponce, zu besprechen.
Als sie allein waren, sagte Henry: „Bruder Romney, ich glaube, es ist unklug, den General zu verärgern.“ Er konnte sehen, dass Junius wütend war, und wollte nicht, dass der Konflikt eskalierte.
„Mein Entschluss ist gefasst“, erwiderte Junius. „Wenn Salazar zurückkommt, werde ich ihm sagen, was ich von ihm halte, und wenn es das Letzte ist, was ich auf Erden tue!“
Kurz darauf kehrte General Salazar mit Oberst Ponce in den Raum zurück. „Offensichtlich ist es dem General nicht gelungen, sich klar auszudrücken“, sagte der Oberst und rieb seine Handflächen aneinander. „Der General möchte nur, dass Sie es Ihren Leuten empfehlen, dann werden sie es auch tun.“
„Das mache ich bestimmt nicht!“, erwiderte Junius. Er wusste, dass die Heiligen sich verraten fühlen würden, wenn er sie aufforderte, ihr einziges Verteidigungsmittel herzugeben.
„Wenn Waffen und Munition nicht bis morgen um zehn Uhr bei mir abgeliefert sind“, warnte General Salazar, „werden wir gegen Sie vorgehen.“
„Ist das ein Ultimatum?“, fragte Junius.
„Das ist es!“, erklärte der General. „Ich werde kommen und mir die Waffen holen, koste es, was es wolle.“
Junius war schockiert, dass der General bereit war, die Siedlungen schonungslos anzugreifen. „Sie würden in unsere Häuser eindringen und uns mit Gewalt die Waffen nehmen?“, fragte er.
„Wir werden Sie als Feinde betrachten“, verdeutlichte General Salazar, „und Ihnen umgehend den Krieg erklären.“
An diesem Abend hörte die siebzehnjährige Camilla Eyring in Colonia Juárez, einer der größeren Siedlungen der Heiligen der Letzten Tage in Norden Mexikos, zu, wie ihr Vater die Gefahren schilderte, die ihrer Familie drohten.
Die Rebellen wollten die Waffen der Heiligen beschlagnahmen und sie wehrlos zurücklassen, sagte er. Aus diesem Grund hatten die Führer der Kirche beschlossen, Frauen, Kinder und Alte aus den Siedlungen in Sicherheit zu bringen. Sie sollten ins etwa zweihundert Kilometer entfernte El Paso in Texas reisen, das nördlich von ihnen gleich hinter der Grenze zu den Vereinigten Staaten lag. Die Männer würden bleiben, um die Häuser und das Vieh zu verteidigen.
Colonia Juárez war die einzige Heimat, die Camilla je gekannt hatte. Drei Generationen ihrer Familie hatten in den Kolonien in Mexiko gelebt, nachdem ihre Großväter dorthin gezogen waren, um der Strafverfolgung zu entgehen, weil sie in Mehrehe lebten. Seitdem war Colonia Juárez zu einer Ortschaft mit Dutzenden von Familien der Heiligen der Letzten Tage geworden, mit schönen Apfelplantagen und schmucken Backsteinhäusern.
Camilla war das älteste von elf Kindern. Ihr Vater, der zwei Frauen hatte, unterhielt eine große Rinderfarm, auf der sie manchmal bei der Käseherstellung half. Er beschäftigte dort Einheimische, deren Familien Camilla ans Herz gewachsen waren. Mit ihren Freundinnen besuchte sie die Schule von Juárez, wo sie sowohl Englisch als auch Spanisch lernte. An warmen Tagen zog sie eines ihrer alten Kleider an und machte sich mit ihren Freundinnen auf den Weg zu einem Schwimmloch am Fluss Piedras Verdes. Nun, da sie sich darauf vorbereitete, ihre Heimat zu verlassen, war es ungewiss, wann – oder ob – sie zurückkehren würde.
Jedes Familienmitglied packte nur so viel ein, dass es in einen einzigen gemeinsamen Koffer passte. Den Rest mussten sie vor den Rebellen verstecken. Camilla verstaute ihr Schulmaterial und andere Erinnerungsstücke an schwer zugänglichen Stellen im Haus. Ihr Vater hebelte unterdessen die Dielen der Veranda vor dem Haus auf und versteckte darunter fast hundert Liter Brombeeren, die Camilla und ihre Geschwister mit ihrer Mutter an diesem Tag eingekocht hatten. Das wertvolle Silberbesteck, die Stoffe und das Geschirr kamen auf den Dachboden.
Am nächsten Morgen, dem 28. Juli, lud die Familie ihren Koffer auf einen Pferdewagen und fuhr die sechzehn Kilometer zum nächsten Bahnhof. Dutzende anderer Familien warteten, mit Bündeln und Koffern beladen, vor dem Bahnhof. In der Nähe stand eine Gruppe berittener Rebellen mit Gewehren und Bajonetten in Reih und Glied.
Als der Zug ankam, quetschten sich die Heiligen in die Waggons. Eine Eisenbahngesellschaft hatte jeden verfügbaren Waggon geschickt, damit die Evakuierung rascher voranging. Einige Waggons waren Güterwagen ohne Fenster, andere wiederum verschmutzte Viehwagen. Camilla, ihre Mutter und ihre Geschwister wurden in einem Waggon für Passagiere der dritten Klasse untergebracht. Sie umklammerten ihre Bündel und ihr Bettzeug und kauerten sich auf harten Bänken zusammen. Es war ein heißer Sommertag, und die Fliegen surrten um sie herum. Camilla kam sich vor wie in einer Sardinenbüchse.
Schon bald verließ der Zug den Bahnhof und fuhr Richtung Norden nach Colonia Dublán, der größten Siedlung der Heiligen in der Gegend, um dort weitere Passagiere aufzunehmen. Als die Heiligen aus Dublán in den Zug gestiegen waren, gab es etwa eintausend Reisende an Bord. In den Waggons stapelte sich das Gepäck.
Der Zug fuhr den ganzen Tag und die ganze Nacht über in Richtung Nordosten. Ein Teil der Gleise war während der Revolution beschädigt worden, sodass der Zug nur schleppend vorankam. Camilla hatte große Angst, dass Rebellen den Zug überfallen und die Passagiere ausrauben würden.
Zu Sonnenaufgang kam der Zug sicher in El Paso an. Am Bahnhof holten Bewohner der Stadt die Heiligen mit Autos und Lastwagen ab und transportierten sie quer durch die Stadt zu einem leerstehenden Holzlager, das für die Flüchtlinge eingerichtet worden war. Camilla und ihre Familie wurden zu einem großen, staubigen Hof mit mehreren Ställen gebracht, wo die Familien ihr Lager aufschlagen konnten. Camillas Familie pferchte sich in eine Box und hängte Decken auf, um etwas Privatsphäre zu haben. Ein ekelerregender Gestank hing in der Luft. Überall schwirrten Fliegenschwärme umher.
Den ganzen Tag lang trafen immer wieder Menschen aus den Siedlungen im Holzlager ein, und Reporter und Fotografen kamen, um sie zu interviewen und zu fotografieren. Auch Einheimische kamen aus der Stadt hinzu. Einige boten ihre Hilfe an, während andere lediglich in die Unterkünfte schauten, um einen Blick auf die Heiligen zu erhaschen.
Camilla war das unangenehm. „Wir sind wie Affen in einem Käfig“, dachte sie.
Alma Richards schmerzten die Augen, als er auf die Hochsprunglatte blickte. Es war der dritte Tag der olympischen Spiele des Jahres 1912. Die Sonne über Stockholms neuem Stadion aus braunem Backstein war unerträglich hell und reizte seine entzündeten Augen, die ihn schon seit Wochen plagten. Wenn er nicht springen musste, trug er einen alten Hut mit herabhängender Krempe, der die Augen vor dem grellen Sonnenlicht schützte. Da er nun wieder an der Reihe war, trat er an den Rand des Feldes und warf seinen Hut ins Gras.
Der Hochsprungwettbewerb hatte mit fast sechzig Athleten aus Dutzenden Nationen begonnen. Nun waren nur er und ein deutscher Springer namens Hans Liesche übrig. Hans war der beste Springer, den Alma je gesehen hatte. Mühelos meisterte er jeden seiner Sprünge beim ersten Versuch. Alma hingegen war es den ganzen Tag über schon schwergefallen, mitzuhalten. Nun lag die Latte bei 1,93 Meter und somit höher, als jemals jemand bei einer Olympiade gesprungen war. Niemand erwartete, dass er es über die Latte schaffen würde – nicht einmal Almas Mannschaftskameraden.
Als Alma sich auf den Sprung vorbereitete, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Da war er nun und vertrat sein Land beim größten Leichtathletikwettbewerb der Welt. Dennoch fühlte er sich schwach, als würde die ganze Welt auf seinen Schultern ruhen. Er dachte an Utah, an seine Familie und seine Heimatstadt. Er dachte an die BYU und an die Heiligen. Er neigte sein Haupt und bat Gott im Stillen, ihm Kraft zu geben. „Wenn es recht ist, dass ich gewinne“, betete er, „werde ich mein Bestes tun, um mein Leben lang ein gutes Beispiel zu geben.“
Er hob den Kopf und spürte, wie das Gefühl der Schwäche wich. Er warf die Schultern zurück, trat an die Startlinie und stellte sich in Position. Dann sprang er voller Energie nach vorne und warf sich in die Luft, wobei er seine Knie unters Kinn presste. Sein Körper schoss nach vorne und segelte mit einigen Zentimetern Abstand über die Latte hinweg.
Hans Liesche, der an der Seitenlinie stand, wirkte plötzlich nervös, als er sich für seinen Sprung aufwärmte. Alma lief im Kreis, um sich die Beine zu lockern. Wenn Hans die Latte übersprang, wovon Alma fest ausging, würde die Latte noch höher gelegt werden, und Alma müsste erneut springen.
Bei seinem ersten Sprung fiel Hans auf die Stange und riss sie zu Boden. Frustriert ging er erneut ins Feld und setzte zum zweiten Sprung an. Wiederum schlug er die Latte von den Stangen.
Alma konnte sehen, dass sein Konkurrent immer angespannter wurde. Gerade als Hans zu seinem letzten Versuch ansetzen wollte, fiel in der Nähe ein Pistolenschuss, der den Start eines Rennens signalisierte. Hans wartete, bis die Läufer die Ziellinie überquert hatten, und bereitete sich dann auf den Sprung vor. Doch in diesem Augenblick begann eine Musikkapelle zu spielen, und er weigerte sich zu springen. Nach neun Minuten drängte ihn ein Schiedsrichter schließlich, sich zu beeilen. Da ihm nichts anderes übrig blieb, lief Hans los und warf sich in die Luft.
Wieder schaffte er es nicht, ohne die Latte zu reißen.
Freude überkam Alma. Der Wettbewerb war vorbei. Er hatte die Goldmedaille gewonnen und einen neuen olympischen Rekord aufgestellt. Hans ging zu ihm und gratulierte ihm herzlich. Auch andere schlossen sich dem Lob an. „Sie haben Utah in aller Welt bekannt gemacht“, sagte ein Mann.
Der Sportbeamte James Sullivan, der zuständig war für die amerikanische Olympiamannschaft, war besonders beeindruckt von Almas Gelassenheit unter diesem Druck und von dessen gesundem Lebensstil. „Ich wünschte, wir hätten hundert saubere Kerle wie Sie in unserer Mannschaft“, sagte er.
Innerhalb weniger Tage lobten Zeitungen in den gesamten Vereinigten Staaten Almas herausragende Leistung und schrieben seinen Erfolg zum Teil seiner Religion zu. „Man bezeichnet den Sieger des Hochsprungwettbewerbs auch als ,den Giganten der Mormonen‘, und diesen Titel hat er sich wahrlich verdient“, schrieb ein Reporter. „Er ist Autodidakt, und sein Weltruhm kommt nach jahrelangem Training und dank einer Entschlossenheit, wie er sie von den Männern geerbt hat, die die Religion der Mormonen gegründet und die Wüste zum Erblühen gebracht haben.“
Einer von Almas Freunden zog ihn unterdessen damit auf, dass er vor seinem Siegessprung gebetet hatte. „Ich wünschte, du würdest nicht lachen“, antwortete Alma leise. „Ich habe zum Herrn gebetet, er möge mir die Kraft geben, diese Höhe zu meistern, und ich habe es geschafft.“
Am 15. August 1912 arbeiteten die Schwestern Jovita und Lupe Monroy im Laden ihrer Familie in San Marcos im mexikanischen Bundesstaat Hidalgo. Die kleine Stadt lag im Herzen des Landes, weit weg von der Revolution und der Gewalt im Norden. An diesem Tag betraten zwei junge, gut gekleidete Amerikaner den Laden, bestellten eine Limonade und fragten die Schwestern höflich, ob sie wüssten, wo Señor Jesús Sánchez wohne.
Die Schwestern kannten den alten Mann gut und beschrieben den Besuchern den Weg zu seinem Haus. Da Señor Sánchez kein Katholik war, verhielten sich einige Einheimische ihm gegenüber eher reserviert. Aber er war befreundet mit Rafael, Jovita und Lupes älterem Bruder.
Als die Schwestern später die Gelegenheit hatten, mit Señor Sánchez zu sprechen, fragten sie ihn, wer denn die jungen Männer gewesen seien.
„Missionare“, antwortete er. Etwa dreißig Jahre zuvor hatte er sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angeschlossen. Doch die Mission der Kirche hatte in Zentralmexiko trotz vielversprechender Anfänge keine Wurzeln geschlagen und war weniger als ein Jahrzehnt nach seiner Taufe geschlossen worden. Inzwischen war die Mission wieder eröffnet worden, und über sechzehnhundert mexikanische Mitglieder lebten nun in der Region. Die Missionare bereisten die ländlichen Gebiete und suchten nach langjährigen Mitgliedern wie ihm.
„Wenn die Missionare wiederkommen“, sagten die Schwestern zu Señor Sánchez, „bringen Sie sie zu uns nach Hause, damit wir ihnen Fragen stellen können.“
Ein paar Monate später kam Señor Sánchez in den Laden und stellte Jovita und Lupe zwei Missionaren vor – Walter Ernest Young und Seth Sirrine. Als Katholikinnen hatten die Schwestern viele Fragen dazu, wie sich der Glaube der Missionare von ihrem unterschied. Sie wollten vor allem wissen, warum die Missionare nicht an die Kleinkindtaufe glaubten. Señor Sánchez borgte den Schwestern seine Bibel, damit sie mehr über die Grundsätze nachlesen konnten, die die Missionare lehrten. Wann immer Jovita und Lupe danach etwas Zeit hatten, lasen sie darin.
Im März 1913 wurde Señor Sánchez krank. Die Monroy-Schwestern halfen seinen Angehörigen, ihn zu pflegen. Als sich sein Zustand verschlechterte, schickten Jovita und Lupe nach den Missionaren, damit sie ihm einen Segen gäben, doch die waren gerade in einer anderen Stadt und konnten nicht sofort kommen. Als sie ankamen, war Señor Sánchez bereits gestorben. Die Missionare hielten einen Trauergottesdienst für ihn ab und sprachen über die Auferstehung. Etwa ein Dutzend Menschen nahmen an dem Gottesdienst teil, darunter auch die verwitwete Mutter von Jovita und Lupe, Jesusita Mera de Monroy, die die Missionare an diesem Abend zum Abendessen einlud.
Jesusita war nicht glücklich darüber, dass sich ihre Töchter weiterhin mit den Missionaren über Religion unterhielten, besonders nachdem Jovita und Lupe aufgehört hatten, die Messe zu besuchen. Allabendlich betete sie zu Gott, er möge verhindern, dass die Missionare weiterhin nach San Marcos kämen, damit ihre Töchter nicht in die Irre geführt würden. Aber beim Abendessen behandelte sie die Missionare sehr zuvorkommend. Bevor sie aßen, fragte einer der Missionare, ob er ein Tischgebet sprechen dürfe. Jesusita stimmte zu, und sein Gebet rührte sie. Nach dem Essen sangen die Missionare das Lied „O mein Vater“, was Jesusita noch mehr bewegte.
Zwei Monate später nahm Lupe ihren älteren Bruder und ihre ältere Schwester, Rafael und Natalia, mit zu einer Konferenz der Heiligen in der Nähe von Mexiko-Stadt, wo die Kirche schon mehr Fuß gefasst hatte. Etwa einhundert Menschen nahmen an der Konferenz teil.
Die Geschwister hörten Ansprachen über Frieden und Brüderlichkeit, den Heiligen Geist, den Abfall vom Glauben und die Wiederherstellung. Sie lernten auch den Missionspräsidenten Rey L. Pratt kennen, der in den Siedlungen der Heiligen der Letzten Tage im Norden Mexikos aufgewachsen war. Familie Monroy war von der Konferenz sehr beeindruckt. Bevor Rafael nach San Marcos zurückkehrte, hatte er einen Traum, in dem er all das verkündete, was er bei der Versammlung gehört hatte.
Ein paar Wochen nach der Konferenz besuchten Präsident Pratt und Elder Young die Familie Monroy in San Marcos. Sie verbrachten einen Tag mit der Familie, ruhten sich in deren Haus aus und lauschten den Schwestern, wenn sie Musik machten. Am Abend sprach Elder Young über die Taufe, und Präsident Pratt sprach über die ersten Grundsätze und Verordnungen des Evangeliums.
Am nächsten Tag, dem 11. Juni 1913, erklärten sich Jovita, Lupe und Rafael bereit, sich taufen zu lassen. Um nicht die Aufmerksamkeit misstrauischer Nachbarn auf sich zu ziehen, führten die Geschwister Präsident Pratt und Elder Young zu einem nahegelegenen Wasserlauf in einem abgelegenes Wäldchen. Dort fanden sie eine schultertiefe Stelle im Fluss, wo die heilige Handlung vollzogen werden konnte.
Nach der Taufe konfirmierten Präsident Pratt und Elder Young die Geschwister am Ufer. Präsident Pratt machte Fotos von der Gruppe mit Elder Young, und alle kehrten zum Abendessen in die Stadt zurück.