„Im Himmel verzeichnet“, Kapitel 16 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 16: „Im Himmel verzeichnet“
Kapitel 16
Im Himmel verzeichnet
Als Anna Kullicks Bruder Ernst Biebersdorf ihr von seinen Arbeitskollegen, die Heilige der Letzten Tage waren, erzählte, packte sie die Neugier. Deren Glaubensansichten erinnerten sie nämlich an einen Traum, den ihre Mutter in Deutschland gehabt hatte, bevor Anna und Ernst samt ihrer Familie in den frühen 1920er Jahren nach Buenos Aires ausgewandert waren.
Louise Biebersdorf war eine tiefreligiöse Frau gewesen und hatte in ihrem Traum einen wunderschönen Ort gesehen. Ihr war es zwar nicht erlaubt, dorthin zu gehen, aber ihr wurde gesagt, dass sie eines Tages durch zwei ihrer Kinder dorthin gelangen werde. Im selben Traum erfuhr sie auch, dass die wahre Kirche aus Amerika kommen werde.1
Bald darauf begannen Anna und Ernst, mit Ernsts Freunden Wilhelm Friedrichs und Emil Hoppe in Buenos Aires die Versammlungen der Heiligen der Letzten Tage zu besuchen.2 Nach der kurzen Missionsreise Parley Pratts nach Chile im Jahr 1851 hatte die Kirche nur wenige Missionare nach Südamerika entsandt und war auf dem Kontinent offiziell gar nicht vertreten. Wilhelm, Emil und auch deren Familien hatten sich in Deutschland der Kirche angeschlossen und brachten die Lehren der Kirche nach Buenos Aires, als sie und tausende weiterer Deutscher – einschließlich der Familien von Anna und Ernst – nach Argentinien ausgewandert waren, um den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen zu entkommen, die nach dem Weltkrieg in ihrer Heimat herrschten.3
Sonntags trafen sich die Heiligen in einem kleinen Zimmer in Wilhelms Haus. Da weder Wilhelm noch Emil die Priestertumsvollmacht hatten, das Abendmahl zu segnen, wurde in den Versammlungen in erster Linie in den heiligen Schriften gelesen und gebetet. Da sie keine Orgel hatten, sang die Gruppe Kirchenlieder, während Wilhelms Sohn dazu die Mandoline spielte. Die Heiligen trafen sich auch jeden Donnerstagabend um sieben in Emils Haus zum Schriftstudium. Als die Gemeinde wuchs, hielt die Gruppe auch eine Sonntagsschule ab und befasste sich mit dem Buch Die Glaubensartikel von James E. Talmage. Kurz darauf fing Anna an, den Zehnten zu zahlen, den Wilhelm an den Hauptsitz der Kirche in Salt Lake City schickte.
Wilhelm lag viel daran, das wiederhergestellte Evangelium weiterzugeben. Er schrieb und verteilte Handzettel und machte in deutschen Zeitungen Werbung für die Versammlungen der Kirche. Er verfasste auch Artikel und hielt Vorträge über eine Vielzahl von Evangeliumsthemen. Aber da er kein Spanisch sprach, war er in seiner Arbeit eingeschränkt. Doch gelegentlich tauchten Deutschsprachige an seiner Tür auf, die sich erkundigen wollten, was es denn mit den Heiligen auf sich habe.4
Im Frühjahr 1925 war Anna bereit, sich taufen zu lassen. Zuerst war ihr Mann Jacob dagegen gewesen, dass sie zu den Versammlungen der Kirche ging, aber bald kam auch er mit. Auch ihre drei Kinder, die schon Jugendliche waren, wollten mehr über das Evangelium erfahren. Annas Bruder Ernst und seine Frau Marie wollten sich ebenfalls der Kirche anschließen, aber es gab in ganz Argentinien niemanden, der die Vollmacht hatte, die Taufe zu vollziehen.
Mit zunehmendem Interesse an der Kirche gab es bald drei verschiedene Orte in der Stadt, wo sich die Gläubigen versammelten. Ihr Glaube begeisterte Wilhelm. „Sie haben ein Zeugnis von der Echtheit dieses Werkes und möchten sich taufen lassen, sobald sich die Gelegenheit bietet“, schrieb er an die Führer der Kirche in Salt Lake City.5
Bald darauf erhielt Wilhelm eine Antwort von Sylvester Q. Cannon, dem Präsidierenden Bischof der Kirche. „Wir haben mit der Ersten Präsidentschaft über die Entsendung von Missionaren nach Argentinien gesprochen, aber bis jetzt ist noch nichts endgültig entschieden“, schrieb er. „Wir erkundigen uns jedoch bereits nach geeigneten Männern, die der deutschen und spanischen Sprache mächtig sind.“6
Die Nachricht gab Anna, Ernst und ihren Familien Hoffnung. Bald wollten alle wissen, wann man denn wohl mit der Ankunft der Missionare rechnen könne.7
Zu dieser Zeit waren viele weiße Amerikaner durch die Veränderungen in den Vereinigten Staaten zunehmend beunruhigt. Millionen von Afroamerikanern und Einwanderern zogen in die nördlichen Städte der USA, um einerseits der Diskriminierung zu entgehen und andererseits bessere Arbeit zu finden. Ihre Präsenz beunruhigte viele Weiße aus der Arbeiterklasse, die Angst hatten, ihren Arbeitsplatz an die Neuankömmlinge zu verlieren. Die Ablehnung nahm zu, und von Hass geleitete Gruppierungen wie der Ku-Klux-Klan, der im Geheimen und mit brutaler Gewalt gegen Schwarze und andere Minderheiten vorging, gewannen im ganzen Land Anhänger.8
Heber J. Grant beobachtete die Ausbreitung solcher hasserfüllter Gruppierungen mit Bestürzung. Jahrzehnte zuvor hatten solche Klan-Mitglieder im amerikanischen Süden mitunter die Missionare angegriffen. Zwar hatten diese Angriffe auf die Heiligen aufgehört, aber die jüngsten Berichte über die Tätigkeit des Klans waren nicht weniger beunruhigend.
„Die vielen Auspeitschungen, Morde und Gewalttaten des Mobs, die dieser Organisation angelastet werden, sind eine traurige Bilanz in der Geschichte des Südens“, schrieb der Präsident der Südstaaten-Mission 1924 an Präsident Grant. „Die Täter werden für diese Verbrechen nicht verurteilt. Der Geist der Gesetzlosigkeit und Gewalt, der im Süden herrscht, ist genau derselbe wie der, der einst die Gadiantonräuber angetrieben hat.“9
In den 1920er Jahren knüpften Gruppierungen, die Hass schürten, an den allenthalben vorherrschenden Rassismus an, der in jeder Region der Vereinigten Staaten wie auch in anderen Gegenden der Welt zu finden war. Im Jahr 1896 hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten entschieden, dass Gesetze der einzelnen Bundesstaaten, die die Trennung von weißen und schwarzen Amerikanern in der Schule, der Kirche, auf der Toilette, im Eisenbahnwaggon sowie in anderen öffentlichen Einrichtungen vorsahen, rechtlich zulässig seien. Darüber hinaus wurden in beliebten Romanen und Filmen Schwarze und auch andere ethnische oder religiöse Gruppen mit verletzenden Stereotypen herabgewürdigt. Nur wenige Menschen, ob in den Vereinigten Staaten oder anderswo, waren der Ansicht, dass Schwarze und Weiße im gesellschaftlichen Leben viel miteinander zu tun haben sollten.10
In der Kirche standen die Gemeinden und Zweige offiziell zwar allen Menschen offen, unabhängig von der ethnischen Herkunft, doch nicht alle Gemeinden hielten sich daran. 1920 waren die schwarzen Heiligen Marie und William Graves in ihrem Zweig in Kalifornien willkommen und voll integriert. Als Marie jedoch einen Zweig im Süden der Vereinigten Staaten besuchte, wurde sie wegen ihrer Hautfarbe aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. „In meinem ganzen Leben hat mich noch nie etwas so tief verletzt“, schrieb sie in einem Brief an Präsident Grant.11
Die Führer der Kirche wussten, dass das wiederhergestellte Evangelium jeder Nation, jedem Geschlecht, jeder Sprache und jedem Volk verkündet werden müsse, um die Erde auf die Wiederkehr des Herrn vorzubereiten. Jahrzehntelang hatten die Heiligen aktiv unter Menschen mit dunklerer Hautfarbe gepredigt – unter anderem den amerikanischen Ureinwohnern, den Bewohnern der Pazifikinseln und den Lateinamerikanern. Aber jahrhundertealte Hürden wie der Rassismus verhinderten, dass das Evangelium in alle Welt getragen werden konnte.
Im Fall von Marie Graves forderte die Erste Präsidentschaft die Gemeinde nicht auf, sie zu integrieren, weil sie befürchtete, dass das Infragestellen der Rassengesetze im Süden sowohl schwarze als auch weiße Heilige in Gefahr bringen würde. Die Führer der Kirche rieten auch nicht zur aktiven Missionierung unter den Schwarzen, da die Kirche Menschen afrikanischer Abstimmung das Priestertum und die Segnungen des Tempels verwehrte.12
Manche in der Kirche wollten eine Ausnahme bewirken. Während seines Besuchs auf den Pazifikinseln hatte Elder David O. McKay an Präsident Grant geschrieben und gefragt, ob für einen schwarzen Heiligen der Letzten Tage, der eine polynesische Frau geheiratet hatte und deren Kinder allesamt in der Kirche groß geworden waren, eine Ausnahme gemacht werden könne.
„David, ich fühle mit dir, was diese Familie angeht“, antwortete Präsident Grant, „aber bis der Herr uns eine Offenbarung in dieser Angelegenheit gibt, werden wir uns an die Richtlinie der Kirche halten müssen.“13
Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten die Führer der Kirche erklärt, dass jeder Heilige, von dem bekannt sei, dass er schwarzafrikanische Vorfahren habe, egal wie fern, den Einschränkungen unterliege. Doch Unkenntnis über die Abstammung einiger Heiliger führte zu Ungereimtheiten bei der Anwendung der Einschränkungen. Nelson Ritchie, der Sohn einer schwarzen Frau und eines weißen Mannes, wusste nur wenig über die Geschichte seiner Eltern, als er und seine Frau Annie, eine Weiße, sich in Utah der Kirche anschlossen. Er hatte helle Haut, und viele seiner Kinder wurden für weiß gehalten. Als zwei seiner Töchter die Ehe schließen wollten, betraten sie den Tempel und erhielten das Endowment und wurden gesiegelt.
Als jedoch Nelson und Annie später im Tempel gesiegelt werden wollten, wurde Nelson vom Bischof über seine Abstammung befragt. Nelson sagte ihm, was er über seine Eltern wusste, und der Bischof wandte sich mit dem Fall an die Erste Präsidentschaft und an das Kollegium der Zwölf Apostel, die die Frage zur Entscheidung an den Bischof zurückgaben. Am Ende bekräftigte der Bischof, dass Nelson und Annie gute Heilige der Letzten Tage waren, aber wegen Nelsons Abstammung lehnte er es ab, ihm einen Tempelschein auszustellen.14
Die damals herrschenden rassistischen Vorurteile waren auch bei vielen Mitgliedern vorhanden, aber die meisten von ihnen missbilligten jene Verbindungen, die im Geheimen agierten und zur Unterdrückung anderer auf gesetzloses Verhalten und Gewalt zurückgriffen. Nachdem sich der Ku-Klux-Klan in den frühen 1920er Jahren in Utah ausgebreitet hatte, prangerten Präsident Grant und weitere Führer der Kirche ihn bei der Generalkonferenz an und setzten ihren Einfluss ein, um dagegen vorzugehen. Nur wenige Mitglieder schlossen sich dieser Verbindung an. Als sich ein Anführer des Klans mit den Führern der Kirche treffen wollte, lehnte Präsident Grant dies ab.15
„Es ist mir unbegreiflich“, schrieb der Prophet im April 1925, „wie jemand, der das Priestertum trägt, den Wunsch hegen kann, dem Ku-Klux-Klan beizutreten.“16
Mitte 1925 verfolgten Heber J. Grant und andere auf der ganzen Welt mit Interesse den Fall von John Scopes, einem Biologielehrer, der im Süden der Vereinigten Staaten vor Gericht stand, weil er lehrte, dass Mensch und Affe von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten.17
Das Verfahren gegen Scopes brachte die große Kluft zwischen den christlichen Kirchen zum Vorschein. Einige Christen, die sich zu den Modernisten zählten, waren der Auffassung, die Bibel solle nicht für naturwissenschaftliche Fragen herangezogen werden. Für das Verständnis der natürlichen Welt sei die Wissenschaft ein zuverlässigerer Wegweiser, argumentierten sie, und Lehrer wie Scopes sollten an den Schulen ohne Angst vor Strafe die Evolutionstheorie lehren dürfen. Fundamentalistische Christen hingegen sahen in der Bibel Gottes absolute, abschließende Wahrheit. Für sie war es Gotteslästerung, zu behaupten, dass der Mensch, also Gottes höchste Schöpfung, aus weniger entwickelten Lebensformen entstanden sei.18
Heber hatte großen Respekt vor der modernen Wissenschaft und vor Wissenschaftlern wie den Aposteln James E. Talmage und John Widtsoe, die sich im jeweiligen Fachgebiet hervorgetan und sich dennoch den Glauben an das wiederhergestellte Evangelium bewahrt hatten. Wie sie war er offen für die Entdeckung neuer Wahrheiten außerhalb der heiligen Schriften, und er glaubte, dass Wissenschaft und Religion letztendlich miteinander in Einklang gebracht werden können.19
Aber er machte sich Sorgen um so manchen jungen Heiligen der Letzten Tage, der im Laufe seines Studiums der Naturwissenschaften seinen Glauben aufgegeben hatte. Als junger Mann war Heber von einem Naturwissenschaftler verspottet worden, weil er an das Buch Mormon glaubte. Der Mann wies auf die Stelle in 3 Nephi hin, wo die Stimme Gottes unter denen, die die Zerstörung zur Zeit der Kreuzigung Christi überlebt hatten, allseits vernommen wurde. Der Naturwissenschaftler sagte, es sei unmöglich, dass eine Stimme so weit getragen werden könne, und jeder, der etwas anderes glaube, sei ein Narr. Jahre später, nachdem die Erfindung des Rundfunks bewiesen hatte, dass Töne sehr wohl große Entfernungen zurücklegen konnten, fühlte sich Heber bestätigt.20
Während dem Lehrer Scopes also der Prozess gemacht wurde, einigten sich Heber und seine Ratgeber darauf, eine gekürzte Fassung des Aufsatzes zum Ursprung des Menschen zu veröffentlichen, den die Erste Präsidentschaft 1909 hatte herausgeben lassen.21 Anstatt die Lehrsätze der Evolutionstheorie zu verurteilen, wie es die Fundamentalisten taten, wird in dem Aufsatz die biblische Lehre bekräftigt, dass Gott Mann und Frau als sein Bild erschaffen hat. Darin wird auch die wiederhergestellte einzigartige Lehre aufgegriffen, dass alle Menschen einst als Geistkind Gottes gelebt haben, bevor sie auf der Erde geboren wurden, und dass diese Geistsöhne und Geisttöchter mit der Zeit herangewachsen sind und sich weiterentwickelt haben.
„Als Geistwesen wurde der Mensch von himmlischen Eltern gezeugt und geboren und wuchs in den ewigen Wohnungen des Vaters zur Reife heran“, bezeugte die Erste Präsidentschaft.
Am Schluss des Textes wurde noch auf eine weitere allmähliche Veränderung hingewiesen, die noch weit in der Zukunft liegt. „So wie aus dem kleinen Sohn eines irdischen Vaters und einer irdischen Mutter im Laufe der Zeit ein Mann wird“, hieß es da, „so ist der unentwickelte Sprössling himmlischer Eltern imstande, sich durch Erfahrung und durch Zeitalter und Ewigkeiten hinweg zum Gott zu entwickeln.“22
Drei Tage nachdem die Erste Präsidentschaft ihre Erklärung veröffentlicht hatte, fällten die Geschworenen im Fall Scopes ihr Urteil. John Scopes wurde für schuldig befunden und zur Zahlung einer Geldstrafe von einhundert Dollar verurteilt.23 Wenn danach jemand an Heber schrieb und sich nach dem Standpunkt der Kirche zur Evolution erkundigte, schickte ihm Heber die Erklärung der Ersten Präsidentschaft. Er war nicht an ihm, den Menschen vorzugeben, was sie glauben sollten. Die Wahrheit könne an ihren Früchten gemessen werden, führte er aus, so wie es Jesus in der Bergpredigt gelehrt hatte.24
Als Len Hope etwa siebzehn Jahre alt war, besuchte er in der Nähe seines Heimatorts in Alabama im Süden der Vereinigten Staaten zwei Wochen lang eine Erweckungsbewegung der Baptisten. Nachts kam der junge Schwarze von den Versammlungen nach Hause, legte sich in die Baumwollfelder und schaute hinauf gen Himmel. Er flehte Gott um Religion an, aber am Morgen war das Einzige, was er für seine Mühe vorweisen konnte, seine vom Tau feuchte Kleidung.
Ein Jahr später schloss sich Len durch die Taufe einer der Kirchen in seiner Gegend an. Etwas später träumte er jedoch, dass er erneut getauft werden müsse. Verwirrt begann er, in der Bibel zu lesen, und zwar so intensiv, dass seine Freunde sich Sorgen machten. „Wenn du nicht aufhörst, so viel zu lesen, wirst du noch verrückt“, sagten sie. „Es gibt doch schon genügend Prediger im Irrenhaus.“
Aber Len konnte nicht aufhören zu lesen. Eines Tages fand er heraus, dass der Heilige Geist ihn zur Wahrheit führen könne. Auf den Rat eines Predigers hin zog er sich in den Wald zurück, um in einem alten, leerstehenden Haus, das von Büschen überwuchert war, zu beten. Dort weinte er stundenlang und flehte Gott um den Heiligen Geist an. Am Morgen wollte er auf Essen und Trinken verzichten, bis er diese Gabe erhielt. Doch dann gab ihm der Geist ein, dies nicht zu tun, denn nur jemand mit Vollmacht von Gott könne ihm den Heiligen Geist übertragen.
Kurze Zeit später, als Len immer noch auf Antwort auf seine vielen Gebete wartete, gab ein Missionar der Heiligen der Letzten Tage seiner Schwester eine Broschüre über Gottes Erlösungsplan mit. Len las die Botschaft und schenkte ihr Glauben. Er erfuhr auch, dass die Missionare der Heiligen der Letzten Tage die Vollmacht hatten, denen, die sich taufen ließen, die Gabe des Heiligen Geistes zu übertragen.
Len suchte die Missionare auf und fragte, ob sie ihn taufen würden.
„Ja, gerne“, sagte einer der Missionare, „aber an deiner Stelle würde ich noch mehr lesen.“25
Sie gaben Len das Buch Mormon, das Buch Lehre und Bündnisse, die Köstliche Perle und andere Bücher der Kirche, die er bald darauf alle durchgelesen hatte. Doch bevor er sich taufen lassen konnte, wurde er wegen des Ersten Weltkrieges zum Militär eingezogen. Er kam nach Übersee, wo er tapfer an der Front diente. Nachdem er nach Alabama zurückgekehrt war, ließ er sich am 22. Juni 1919 von einem Mitglied der Kirche dort taufen und empfing endlich die Gabe des Heiligen Geistes.26
Ein paar Tage nach seiner Taufe kam eines Abends ein Mob weißer Männer zu seinem Haus und rief nach ihm. „Wir wollen nur mit dir sprechen“, behaupteten sie. In ihren Händen hielten sie Gewehre und Schrotflinten.
Len trat nach draußen. Er war ein Schwarzer im amerikanischen Süden, wo bewaffnete Banden die Rassentrennung mitunter gewaltsam durchsetzten. Sie könnten ihn auf der Stelle verletzen oder töten, ohne sich jemals für ihr Verbrechen verantworten zu müssen.27
Jemand aus der Horde wollte wissen, wieso sich Len den Heiligen der Letzten Tage angeschlossen habe. Schwarzen und Weißen war es in Alabama erlaubt, gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen, aber der Staat hatte auch strenge Gesetze zur Rassentrennung erlassen – und ungeschriebenen Regeln zufolge durften Schwarze und Weiße in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam auftreten. Da fast alle Heiligen der Letzten Tage in Alabama weiß waren, betrachtete der Mob Lens Taufe als Kampfansage gegen die dort geltende Rassentrennung.28
„Du warst also jenseits des Meeres und hast dort ein paar Sachen gesehen“, meinte der Mann, womit er sich auf Lens Militärdienst bezog. „Und jetzt willst du dich den Weißen anschließen.“
„Ich hatte mich schon mit der Kirche befasst, bevor ich in den Krieg zog“, erklärte Len. „Ich habe herausgefunden, dass sie die einzig wahre Kirche auf Erden ist. Deshalb habe ich mich ihr angeschlossen.“
„Wir wollen, dass du deinen Namen aus den Büchern streichen lässt“, forderte der Mob. „Tust du das nicht, werden wir dich an einem Ast aufhängen und dich mit Kugeln durchlöchern.“29
Am nächsten Morgen besuchte Len eine Konferenz von Heiligen in der Gegend und erzählte ihnen von der Drohung. Er wusste, dass es ein Risiko war, zu der Versammlung zu gehen, aber er war bereit, für seinen neuen Glauben zu sterben.
„Bruder Hope, wir könnten deinen Namen gar nicht streichen, selbst wenn wir es wollten“, versicherten ihm die Mitglieder der Kirche. „Dein Name steht in Salt Lake City und ist auch im Himmel verzeichnet.“ Viele von ihnen boten Len ihre Hilfe an, falls der Mob jemals wieder hinter ihm her sein sollte.30
Doch die Männer kamen nicht wieder. 1920 heiratete Len eine Frau namens Mary Pugh. Sie zogen nach Birmingham, einer großen Stadt in der Mitte von Alabama. Marys Onkel war Baptistenpastor und er sagte seiner Nichte vorher, dass sie der Kirche Jesu Christi beitreten werde, ehe das Jahr vorbei sei.
Mary las das Buch Mormon und erhielt ein Zeugnis, dass es wahr ist. Es dauerte etwas länger, als ihr Onkel vorhergesagt hatte, aber nach fünf Jahren Ehe schloss sich Mary der Kirche an. Am 15. September 1925 fuhren die Hopes mit zwei Missionaren zu einer abgelegenen Quelle in der Nähe von Birmingham. Mary wurde dort ohne Zwischenfälle getauft, und wie ihr Mann gehörte sie nun zu den Heiligen der Letzten Tage.31
„Mir könnte es gar nicht besser gehen“, erzählte sie ihrem Onkel, „und ich kann mir keine bessere Kirche vorstellen.“32
Unterdessen begrüßten Anna Kullick und ihre Familie in Buenos Aires Apostel Melvin J. Ballard und seine Begleiter, Rey L. Pratt und Rulon S. Wells von den Siebzigern, in ihrer Stadt. Die Erste Präsidentschaft hatte die drei Generalautoritäten nach Argentinien gesandt, um Südamerika für die Missionsarbeit zu weihen, einen Zweig der Kirche zu gründen und den Bewohnern der Stadt auf Deutsch und auf Spanisch das Evangelium zu verkünden. Familie Kullick hatte monatelang darauf gewartet, dass jemand kommt. Die Missionare waren die Einzigen auf dem südamerikanischen Kontinent, die die richtige Vollmacht hatten, sie durch die Taufe in die Kirche Jesu Christi zu bringen.33
Elder Wells sprach gut Deutsch, und Elder Pratt sprach fließend Spanisch. Aber Elder Ballard sprach keine der beiden Sprachen und schien von seinem neuen Umfeld ein wenig überfordert zu sein. Alles an Buenos Aires – die Sprache, die warme Dezemberluft, die Sternbilder am südlichen Himmel – war ihm fremd.34
Die Missionare verbrachten ihre ersten Tage in Argentinien mit Besuchen bei den deutschen Mitgliedern in der Stadt. Sie hielten Versammlungen im Haus von Wilhelm Friedrichs ab und besuchten einen Unterricht über das Buch Mormon im Haus von Emil Hoppe. Am 12. Dezember 1925 tauften sie Anna, Jacob und deren sechzehnjährige Tochter Herta. Auch Annas Bruder Ernst und seine Frau Marie ließen sich taufen, ebenso wie Wilhelm Friedrichs’ Adoptivtochter Elisa Plassmann. Am nächsten Tag ordinierten die Missionare Wilhelm und Emil zum Priester und Jacob und Ernst zum Diakon.35
Zwei Wochen später gingen die drei Missionare am ersten Weihnachtstag zum Parque Tres de Febrero, einem bekannten Park im Zentrum, der durch seine grünen Rasenflächen, blauen Teiche und stillen Wäldchen voller Trauerweiden bestach. In der Abgeschiedenheit dieses Parks sangen die Männer Kirchenlieder und neigten dann das Haupt, während Elder Ballard den Kontinent für das Werk des Herrn weihte.
„Ich drehe den Schlüssel um, schließe die Tür auf und öffne sie für die Verkündigung des Evangeliums in all diesen Nationen Südamerikas“, betete er, „und gebiete jeder Macht Einhalt, die sich der Evangeliumsverkündigung in diesen Ländern entgegensetzt.“36
Sobald die Südamerikanische Mission offiziell eröffnet war, arbeiteten die Missionare und die Mitglieder gemeinsam daran, ihren Mitmenschen vom Evangelium zu erzählen. Herta Kullick, die Spanisch beherrschte, erzählte ihren spanischsprachigen Freunden in der Schule bisweilen vom Evangelium. Elder Ballard und Elder Pratt gingen unterdessen von Tür zu Tür, verteilten Handzettel und luden die Menschen zu den Versammlungen der Kirche ein. Die Arbeit war mühselig. Oftmals mussten die Missionare bei jeder Witterung querfeldein oder über unbefestigte Feldwege weite Strecken zurücklegen.37
Im Januar 1926 kehrte Elder Wells aus gesundheitlichen Gründen nach Hause zurück, sodass Herta nun bei den Kontakten mit den deutschen Heiligen für Elder Ballard und Elder Pratt übersetzen musste. Elder Ballard bereitete die Botschaft für die Heiligen jeweils zuerst auf Englisch vor, Elder Pratt übersetzte diese dann ins Spanische, und Herta übersetzte sie anschließend ins Deutsche. Es war ein komplizierter – und mitunter auch heiterer – Ablauf, aber die Missionare waren dankbar für ihre Hilfe.38
Bei den Treffen zeigten die Missionare oft eine Diashow mittels eines Projektors, den sie aus den Vereinigten Staaten mitgebracht hatten. Da Herta meinte, ihre Freunde könnten sich dafür interessieren, lud sie sie dazu ein. Bald fanden sich regelmäßig fast einhundert junge Leute, von denen die meisten nur Spanisch sprachen, beim gemieteten Versammlungshaus der Heiligen ein, und die Missionare organisierten eine Sonntagsschule, um alle zu unterrichten.39
Die Eltern der Jugendlichen waren neugierig, was ihre Kinder lernten, und begannen sich ebenfalls mit den Heiligen zu treffen. Bei einer Versammlung füllten mehr als zweihundert Menschen das Versammlungshaus, um sich Bilder über die Wiederherstellung anzusehen und Elder Pratt zuzuhören, der in ihrer Muttersprache sprach.40
Sechs Monate nachdem Elder Ballard, Elder Pratt und Elder Wells nach Buenos Aires gekommen waren, trafen ein Missionspräsident und zwei junge Missionare ein, die an ihrer statt die Arbeit auf Dauer weiterführen sollten. Der neue Präsident war Reinhold Stoof. Er und seine Frau Ella hatten sich erst wenige Jahre zuvor in Deutschland der Kirche angeschlossen. Einer der Missionare, J. Vernon Sharp, sprach Spanisch, wodurch sichergestellt war, dass sowohl deutsch- als auch spanischsprachige Südamerikaner das Evangelium in ihrer Muttersprache hören konnten. Nicht lange nach ihrer Ankunft hatte die Mission ihre erste spanischsprachige Bekehrte, Eladia Sifuentes.41
Kurz bevor Elder Ballard in die Vereinigten Staaten zurückkehren sollte, gab er am 4. Juli 1926 einer kleinen Gruppe argentinischer Heiliger Zeugnis. „Das Werk des Herrn wird hier eine Weile nur langsam wachsen, so wie aus einer Eichel nur langsam eine Eiche wird“, erklärte er. „Es wird nicht an einem Tag hervorschießen wie die Sonnenblume, die schnell wächst und dann auch schnell verwelkt.
Tausende werden sich hier der Kirche anschließen“, prophezeite er. „Die Mission wird mehrmals geteilt werden und zu den stärksten Missionen in der Kirche gehören.“42