Kapitel 20
Schwere Zeiten
Kurz nach ihrem Abschluss an der Landwirtschaftshochschule in Utah lehnte die zweiundzwanzigjährige Evelyn Hodges eine bezahlte Stelle als Lehrerin ab, weil sie lieber ehrenamtlich als Sozialarbeiterin für die Abteilung Sozialdienste der Frauenhilfsvereinigung in Salt Lake City arbeiten wollte.1
Ihre Eltern waren darüber nicht gerade erfreut. Ihre Mutter war zwar in der Frauenhilfsvereinigung sehr aktiv, doch sie fand, Sozialarbeit sei für ihre Tochter nicht das Richtige. Und ihr Vater wollte sie einfach nur auf der Farm der Familie in Logan behalten.
„Ich habe doch nur eine Tochter, die noch am Leben ist, und die sollte ich ja wohl ernähren können“, meinte er. „Bleib bitte zuhause! Mach deinen Master, mach deinen Doktor – mach alles, was du willst. Aber bleib daheim!“2
Letzten Endes schloss Evelyn mit ihren Eltern einen Kompromiss. Neun Wochen wollte sie ehrenamtlich als Sozialarbeiterin arbeiten. Sollte ihr die Frauenhilfsvereinigung bis dahin keine bezahlte Arbeit anbieten, würde sie nach Hause zurückkehren.
Evelyn suchte gleich an ihrem ersten Samstag in Salt Lake City das Haus von Amy Brown Lyman auf, der Ersten Ratgeberin in der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung, die gleichzeitig auch Leiterin des Sozialdienstes der FHV war. Amy öffnete ihr jedoch nicht. Stattdessen fand Evelyn sie im ersten Stock im Schneidersitz mitten auf einem Bett in ein Nähprojekt vertieft. Sie trug ein zerknittertes Kleid und hatte überall Nähzeug herumliegen.
Dieser Anblick und die Unnahbarkeit, die Amy ausstrahlte, verunsicherten Evelyn. Sie fragte sich, ob es denn die richtige Entscheidung gewesen sei, nach Salt Lake City zu kommen. Wollte sie allen Ernstes für diese Frau arbeiten?3
Im Laufe der nächsten neun Wochen stellte Evelyn fest, dass es nichts gab, was sie lieber wollte. Als Sozialarbeiterin war sie für etwa achtzig Familien zuständig und lernte sämtliche Gassen und Winkel der Stadt kennen. Anfangs war sie noch ein wenig schüchtern, wenn sie mit Fremden sprechen sollte, doch bald entdeckte sie, welche Freude und Befriedigung es bringt, Notleidende zu unterstützen. Als ihre Eltern sie nach Ablauf der neun Wochen wie vereinbart abholen kamen, war sie untröstlich, denn die Frauenhilfsvereinigung hatte ihr letzten Endes immer noch keine Stelle angeboten.
Drei Tage war Evelyn nun schon wieder in Logan, als sie einen Anruf von Amy erhielt. Eine Sozialarbeiterin hatte gerade in eines der Krankenhäuser dort gewechselt, und Amy wollte wissen, ob Evelyn deren Stelle übernehmen wolle.
„O ja!“, sagte sie sogleich und erkundigte sich erst gar nicht, wie hoch denn der Lohn sei.
Evelyns Vater war zu dem Zeitpunkt gerade unterwegs. Er war enttäuscht, als er hörte, dass sie in seiner Abwesenheit die Stelle angenommen hatte. Evelyn wollte ihn keineswegs verstimmen, doch ihre Berufswahl stand für sie unumstößlich fest.4
In Salt Lake City arbeitete Evelyn direkt mit den Bischöfen zusammen, die Witwen, Menschen mit einer Behinderung, arbeitslose Familien und weitere Notleidende an die Frauenhilfsvereinigung verwiesen.5 Unter Aufsicht des Bischofs erstellte sie für jeden Notfall ein Hilfskonzept. Sie arbeitete mit Behörden und auch mit den Gemeinden der Kirche zusammen und trieb für die Bedürftigen Geld aus dem Fastopferfonds, den Mitteln der Frauenhilfsvereinigung sowie von kommunalen Wohlfahrtsverbänden auf.
Nach den damaligen Richtlinien der Kirche waren die Menschen aufgefordert, zunächst den Staat um Hilfe zu bitten, bevor sie sich an die Kirche wandten, und so erhielten viele der Familien, die Evelyn betreute, aus beiden Quellen Unterstützung. Die Beträge waren in der Regel nicht sonderlich hoch, und so fragte Evelyn ihre Klienten stets, ob nicht auch Verwandte, Freunde oder Nachbarn zusätzlich aushelfen könnten.6
Im Oktober 1929 brach der Aktienmarkt in den Vereinigten Staaten zusammen. Evelyn befand sich damals gerade erst seit wenigen Monaten wieder in Salt Lake City. Zunächst schienen die fallenden Aktienkurse im fernen New York keinerlei Auswirkungen auf Evelyns Arbeitspensum zu haben, und im Frühjahr 1930 hatte es sogar den Anschein, als ob sich die Wirtschaft von dem Zusammenbruch erhole.7
Doch lange währte der Aufschwung nicht. Privatpersonen und Unternehmen, die hohe Schulden hatten, vermochten diese nicht zurückzuzahlen. Es wurde weniger Geld ausgegeben, wodurch wiederum die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen zurückging.8 Utah war besonders hart betroffen, denn die Wirtschaft, die ja stark vom Bergbau und vom Export landwirtschaftlicher Güter geprägt war, war bereits vor dem Zusammenbruch des Aktienmarktes nicht sonderlich stabil gewesen. Und als nun die Preise für sämtliche Rohstoffe fielen, konnten die Produzenten keinerlei Gewinn mehr erzielen und die Arbeiter daher nicht mehr bezahlen. Innerhalb kürzester Zeit verloren viele den Arbeitsplatz. Was die Lage noch verschlimmerte, war die Tatsache, dass nun auch weniger Menschen für die Bedürftigen Geld an Wohltätigkeitsvereine spenden konnten. Der Zehnte und weitere Spenden der Kirche gingen ebenfalls zurück.
Nicht lange nach der Hundertjahrfeier der Kirche besuchte Evelyn immer mehr Familien, die finanziell nicht mehr über die Runden kamen. Angst machte sich in so manchem Herzen breit.9
Am Abend des 19. Mai 1930 empfingen William und Clara Daniels in ihrem Haus in Kapstadt Don Dalton, den Präsidenten der Südafrikanischen Mission. Familie Daniels hatte zu einer sogenannten Hausversammlung eingeladen. Besprochen wurde ein Kapitel aus dem Buch Jesus der Christus von Elder James E. Talmage. Auch Alice, die erwachsene Tochter von William und Clara, war anwesend.10
Familie Daniels hielt bereits seit 1921 bei sich zuhause solche Treffen am Montagabend ab. Diese Zusammenkünfte waren wie eine Zuflucht vor den Rassenspannungen, denen sie sich ansonsten allenthalben ausgesetzt sahen. In Kapstadt waren Kirchengemeinden und Schulen nach Rassen getrennt. Schwarze und Menschen gemischter Herkunft, die „Farbige“ genannt wurden, besuchten einen Ort, die Weißen einen anderen. Doch bei den Treffen im Haus der Familie Daniels wurde kein Gläubiger aufgrund seiner Hautfarbe ausgeschlossen. William und Clara, die sowohl schwarze als auch südostasiatische Vorfahren hatten, hießen jeden willkommen, der teilnehmen wollte. Präsident Dalton und die Missionare, die oft teilnahmen, waren weiß.11
William hatte das wiederhergestellte Evangelium erstmals durch seine Schwester Phyllis kennengelernt, die sich mit ihrem Mann der Kirche angeschlossen hatte und in den frühen 1900er Jahren nach Utah gezogen war. 1915 lernte William dann einen Missionar der Heiligen der Letzten Tage kennen, dessen aufrichtiges und selbstloses Engagement im Evangelium seine Aufmerksamkeit erregte.12
William reiste kurz danach nach Utah, um mehr über die Heiligen der Letzten Tage zu erfahren, deren Kirche sein Interesse geweckt hatte. Was er dort sah, beeindruckte ihn zutiefst. Er bewunderte den Glauben der Mitglieder und war von ihrer Hingabe gegenüber Jesus Christus und dem Neuen Testament angetan. Zweimal traf er sogar mit Präsident Joseph F. Smith zusammen, der ihm allerdings sagte, die Zeit sei noch nicht gekommen, dass Männer afrikanischer Abstammung das Priestertum empfangen dürften.
Diese Aussage des Propheten beunruhigte William. Zwar galt in der protestantischen Kirche, die er in Südafrika besuchte, ebenfalls die Rassentrennung, doch war es ihm nicht untersagt, in seiner Gemeinde als Ältester zu fungieren. Würde er sich den Heiligen der Letzten Tage anschließen, so wäre ihm ein ähnliches Amt verwehrt. Präsident Smith gab William jedoch einen Segen und verhieß ihm darin, der Tag werde kommen, da er das Priestertum innehaben werde – und sei dies auch erst im Jenseits. Der Segen berührte William und schenkte ihm Hoffnung. Er ließ sich in Utah taufen und kehrte anschließend bald nach Südafrika zurück.13
Seit damals hatte William in Kapstadt im Zweig Mowbray gemeinsam mit den weißen Mitgliedern den Gottesdienst besucht. Er gab in den Versammlungen Zeugnis und sprach Gebete. Er war auch an einer Spendenaktion des Zweiges für die neue Orgel im Gemeindehaus beteiligt.14 Clara hatte sich einige Jahre nach seiner Taufe der Kirche angeschlossen, und den beiden lagen vor allem auch die Missionare am Herzen. Sie luden neue Missionare häufig zum Essen ein, verabschiedeten sich von den abreisenden Missionaren und verbrachten mit ihnen Geburtstage und Feiertage. Damit sich die jungen Männer in seinem Haus auch willkommen fühlten, spielte William auf seinem Plattenspieler mitunter die amerikanische Nationalhymne oder organisierte ein Baseballspiel.15
Doch nicht alle im Zweig waren so unvoreingenommen. Erst kürzlich hatte William gehört, dass einige Mitglieder seine Familie nicht voll und ganz in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollten. Und Präsident Dalton hatte gehört, dass einige Besucher kein Interesse mehr an der Kirche zeigten, als sie merkten, dass im Zweig Mowbray die Gläubigen nicht nach ethnischer Herkunft getrennt waren.16
Einmal sagte William zu seiner Frau, er überlege ernsthaft, ob er die Kirche nicht verlassen solle. „Hör mal“, erwiderte sie, „du warst doch drüben in Salt Lake City und hast dich taufen lassen.“ Warum das alles jetzt aufgeben?17
Claras Worte und die Treffen am Montagabend bei ihm zuhause gaben William die Kraft, trotz seiner Bedenken dem Glauben treu zu bleiben. An jenem Abend im Frühjahr 1930 lasen Familie Daniels und ihre Gäste zunächst abwechselnd aus Jesus der Christus vor und sprachen sodann darüber, wie der Erretter den sturmgepeitschten See beruhigt hatte.
Dieses Ereignis führte ihnen vor Augen, dass man sich in Momenten der Prüfung Christus zuwenden kann, da menschliche Macht häufig an ihre Grenzen stößt. Christus jedoch vermochte mit dem einfachen Gebot „Schweig, sei still!“ alle zu retten.18
Hagelkörner so groß wie Taubeneier prasselten am Nachmittag des 24. Juni 1930 auf das Missionsheim der Schweizerisch-Deutschen Mission in Basel hernieder. Eine ganze Woche schon waren John und Leah Widtsoe in dem Haus untergebracht, schulten dort die Missionspräsidenten und deren Frauen und sprachen mit ihnen über die Bedürfnisse und Aufgaben der Missionare. Jeder Tag war angefüllt mit langen Besprechungen und tiefschürfendem Gedankenaustausch über die Kirche in Europa. Nur das Prasseln der Hagelkörner störte gelegentlich die Konferenz.19
Noch nie auf Mission war Leah eifriger beschäftigt gewesen. Sie war für die Schulung der Ehefrauen der Missionspräsidenten zuständig, die wiederum den Mitgliedern in Europa helfen sollten, in ihren Distrikten und Zweigen Frauenhilfsvereinigungen, Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigungen Junger Damen sowie Primarvereinigungen zu gründen. Angesichts der Tatsache, dass die Führer der Kirche den Heiligen rieten, nicht mehr auszuwandern, sondern Zion jeweils im Heimatland aufzubauen, war Leah davon überzeugt, dass die Mitglieder vor Ort in diesen Organisationen eine tragende Rolle übernehmen mussten.20 In einigen Zweigen fungierten Missionare als Leiter der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen und Junger Männer. Aber Leah legte Wert darauf, dass jeder Zweig seine eigene GFV Junger Damen mit einer einheimischen Leiterin, zwei Ratgeberinnen, einer Sekretärin und so vielen Helferinnen wie nötig stellte.
Von der Frau des Missionspräsidenten wurde natürlich nicht erwartet, dass sie jede Organisation persönlich beaufsichtigte. Allein konnte sie die ganze Arbeit ja gar nicht bewältigen. Wollte sie die Zuständigkeit nicht den einheimischen Führern der Kirche übertragen, würde dies sogar bedeuten, dass die Organisationen stark eingeschränkt wären. Leah wünschte sich, dass die Missionsführer die europäischen Mitglieder dazu motivierten und schulten, selbst die Leitung zu übernehmen.21
Am 27. Juni sprach Leah mit den Frauen über die Notwendigkeit, die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Damen in Europa zu stärken. Innerhalb der GFV Junger Damen gab es zwei Programme – die Bienenkorbmädchen und die Ährenleserinnen. Die Bienenkorbmädchen durchliefen ein dreijähriges Programm für Mädchen ab vierzehn Jahren. Sobald eine Junge Dame die Voraussetzungen erfüllt hatte, trat sie den Ährenleserinnen bei. Diese verfügten über ein weniger strukturiertes Programm, das die Mädchen auf das Erwachsenenleben vorbereiten sollte. Bereits zweitausend Mädchen nahmen in Europa am Programm der Bienenkorbmädchen teil, und Leah legte den Frauen der Missionspräsidenten ans Herz, das Programm in allen Missionen weiter auszuweiten.22
Sie gab auch bekannt, dass Ruth May Fox, die Präsidentin der GVF Junger Damen, sie unlängst beauftragt habe, vom Handbuch für Bienenkorbmädchen eine Ausgabe eigens für Europa zu verfassen. Das aktuelle Handbuch zielte darauf ab, die Mädchen durch verschiedene Aktivitäten sowohl im Freien als auch im Haus in ihrer Entwicklung zu fördern, doch manche Inhalte waren zu sehr auf die Vereinigten Staaten zugeschnitten und demnach für andere Teile der Welt ungeeignet. Leah stellte den Ehefrauen der Missionspräsidenten ihre Ideen für das neue Handbuch vor, und gemeinsam unterhielten sie sich darüber, wie man das Handbuch besser an die Bedürfnisse der Mädchen in Europa anpassen könne.23
Im Anschluss an die Konferenz berichtete Leah der Ersten Präsidentschaft. „Ich meine, dass man hier doch von einem gewissen Erfolg sprechen kann“, schrieb sie. „Die Frauen in den Missionen spüren immer mehr, dass sie sich weiterentwickeln, Aufgaben übernehmen und bei den Aktivitäten der Kirche ihren Teil beitragen müssen.“
Leah war sich jedoch auch dessen bewusst, dass so manches noch verbesserungswürdig war. „Die Menschen haben noch nicht gelernt, einander im Amt zu unterstützen“, schrieb sie. „Sie müssen es hier genauso lernen wie zuhause.“ Sie nahm sich vor, im Laufe des nächsten Jahres vermehrt zu betonen, wie wichtig es ist, die Beamten und Führer der Kirche vor Ort zu unterstützen.
„Letztes Jahr habe ich tagein, tagaus einen vollen Arbeitstag gehabt und kaum auch nur eine Stunde Pause gemacht“, fügte sie hinzu. Aber nie habe sie sich wohler gefühlt. „Ich fühle mich jünger und bin viel glücklicher als bei meiner Ankunft“, schrieb sie. „Dafür bin ich an erster Stelle dem Vater im Himmel dankbar und dann auch euch, meinen lieben Führern und Freunden.“24
Im Herbst wurde die zehnjährige Helga Meiszus in Tilsit in der Memel getauft. Es war kalt, doch der Nachthimmel war von Sternen übersät. Helga stieg aus dem Wasser und konnte ihre Freude darüber, nun der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anzugehören, kaum fassen.25
Sie durchlebte gerade einen ereignisreichen Lebensabschnitt. Sie war jetzt an einer neuen Schule, und anfangs hatte sie sich über die Veränderung gefreut. Die Schule lag unweit ihres Zuhauses, und viele Freundinnen und Nachbarskinder gingen ebenfalls dorthin. Doch schon bald bereute sie ihre Entscheidung. Ihre Lehrerin, Fräulein Maul, schien sie nicht zu mögen.
Einmal musste Helga für die Schule ein Formular mit persönlichen Angaben ausfüllen. Fräulein Maul nahm daraufhin Anstoß an der Tatsache, dass Helga eine Heilige der Letzten Tage war. Zwar gab es in Deutschland mehr Mitglieder als in jedem anderen Land außerhalb der Vereinigten Staaten, doch die waren nicht allseits bekannt und wurden auch nicht sonderlich geschätzt.
„Das ist doch keine Religion“, kritisierte Fräulein Maul. „Das ist eine Sekte, und zwar eine ziemlich üble!“26
Das Wort „Sekte“ versetzte Helga einen Stich. Da sie es nicht gewohnt war, wegen ihrer Religionszugehörigkeit verunglimpft zu werden, erzählte sie ihrer Mutter, was Fräulein Maul gesagt hatte. Ihre Mutter nahm einfach ein Blatt Papier zur Hand und schrieb der Lehrerin, dass es sie nichts angehe, welche Kirche Helga und ihre Familie besuchten.
Bald darauf trat Fräulein Maul in Begleitung der Direktorin vor die Klasse. Alle Mädchen standen auf, und Fräulein Maul ging auf Helga zu, die ziemlich weit vorne saß.
„Das ist sie“, sagte sie und deutete mit dem Finger auf Helga. „Dieses Mädchen da gehört zu dieser fürchterlichen Sekte.“
Die Direktorin stand eine Weile da und starrte Helga an, als wäre das Mädchen ein Ungeheuer. Helga hielt den Kopf unentwegt hoch. Ihr Glaube bedeutete ihr viel und sie schämte sich keineswegs dafür.27
Nach diesem Vorfall spielten viele ihrer Freundinnen nicht mehr mit ihr. Auf dem Schulweg wurde sie gelegentlich mit Steinen beworfen oder angespuckt. Einmal bemerkte Helga auf dem Heimweg, dass sie ihren Mantel in der Schule vergessen hatte. Sie lief rasch zurück und fand ihren Mantel genau dort, wo sie ihn hatte hängen lassen. Doch als sie ihn an sich nahm, merkte sie, dass jemand hineingeschnäuzt hatte.28
Wenn Helga nun in der Schule wieder mal schikaniert wurde, sang sie leise ein Lied, das sie in der Kirche gelernt hatte und das ihr Kraft schenkte. Auf Englisch lautete der Titel „I Am a Mormon Boy“, aber in der deutschen Übersetzung war von einem „Kind“ die Rede:
Mormonenkind, Mormonenkind –
ich bin ein Mormonenkind.
Ein König mag mich wohl beneiden,
denn ich bin ein Mormonenkind.29
Am 30. Januar 1931 standen Evelyn Hodges und weitere Sozialarbeiterinnen der FHV in Salt Lake City an den Fenstern im zweiten Stock des Gebäudes des Präsidierenden Bischofs, wo auch der Sozialdienst der Frauenhilfsvereinigung untergebracht war. Auf der Straße unten zogen fast fünfzehnhundert Demonstranten gen Norden hin zum Kapitol des Bundesstaates. Sie forderten vom Parlament Hilfsmaßnahmen für die steigende Zahl an Erwerbslosen.30
Evelyn blickte auf die Demonstranten hinunter und war überrascht, dass sie weder wütend noch feindselig aussahen. Sie hatten zwei amerikanische Flaggen bei sich sowie Schilder und Plakate, auf denen die arbeitende Bevölkerung aufgefordert wurde, sich ihnen anzuschließen. Viele Demonstranten ließen die Füße schleifen und resigniert den Kopf hängen. Sie sahen einfach nur bedrückt aus.31
Vor diesen schweren Zeiten hatte Evelyn vor allem mit Menschen gearbeitet, die wegen ihres Gesundheitszustandes oder einer Behinderung keine Arbeit aufnehmen konnten. Jetzt kümmerte sie sich vermehrt um Arbeitswillige, die keine Arbeit finden konnten. Einige davon waren Facharbeiter, andere wiederum Studenten oder Hochschulabsolventen. Viele von ihnen hatten jegliches Selbstwertgefühl verloren, mochten aber nicht um Hilfe bitten.32
Ein Mann, mit dem sie gesprochen hatte, hatte jahrelang für seine Frau und seine Kinder gesorgt. Sie wohnten in einem gemütlichen Haus in einer angenehmen Nachbarschaft, doch nun konnte er keine Arbeit finden, und die Familie war zunehmend verzweifelt. Mit Tränen in den Augen gestand er Evelyn, dass sie nur noch Mehl und Salz zuhause hatten. Es war offensichtlich ganz schlimm für ihn, um Geld für seine Familie zu bitten, aber welche Wahl blieb ihm?33
Mit Fällen wie diesen hatte Evelyn nun regelmäßig zu tun. Als sich die wirtschaftliche Lage verschlechterte, konnte die FHV überhaupt nicht mehr als fünf Sozialarbeiterinnen beschäftigen, sodass Evelyn mit Arbeit überhäuft war. Oft konnte sie gar nicht mehr tun, als sich nur rasch einen Überblick über die Lage zu verschaffen und ein Formular auszufüllen, das den Notleidenden Grundnahrungsmittel, Unterstützung bei den Mietzahlungen oder ein bisschen Kohle für den Winter zusicherte.34
Louise Y. Robison, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, und ihre Ratgeberinnen trafen sich regelmäßig mit der Präsidierenden Bischofschaft, um Wohlfahrtsmaßnahmen für die Mitglieder vorzubereiten. Die Bischöfe und FHV-Leiterinnen arbeiteten ebenfalls zusammen, um in der Gemeinde die Notleidenden ausfindig zu machen und für ihre Grundbedürfnisse zu sorgen. Auch die örtlichen Behörden und einige Unternehmen ließen sich das eine oder andere einfallen, um ihre Arbeiter nicht entlassen zu müssen. Ein vom Landkreis betriebenes Lagerhaus gab in Salt Lake City kostenlos Lebensmittel aus. Die Stadtverwaltung schuf zeitlich befristete Arbeitsplätze wie Schneeschaufeln oder Holzhacken und gab damit mehr als zehntausend Arbeitslosen einen Job.
Dennoch merkten die Führungsverantwortlichen sowohl in der Kirche als auch im städtischen Bereich sehr rasch, dass all die gemeinsamen Anstrengungen und eingesetzten Mittel nicht ausreichten, der Wirtschaftskrise zu trotzen.35
Evelyn und auch Amy Brown Lyman sowie weitere Sozialarbeiterinnen der FHV machten noch mehr Überstunden. Die Arbeit schien an manchen Tagen gar kein Ende zu nehmen – ob wochentags oder am Wochenende, das machte bald schon kaum einen Unterschied. Da alle Akten der Sozialarbeiterinnen vertraulich behandelt werden mussten, versuchte Evelyn, ihre Fälle stets nur im Büro zu bearbeiten. Doch letzten Endes musste sie die Unterlagen in ihrer Aktentasche sogar nach Hause mitnehmen, wo sie am Samstagnachmittag oder am Sonntag daran arbeitete.
Die Belastung erschöpfte sie und setzte ihrer Gesundheit zu. Doch wie könnte sie jemals den verzagten Gesichtsausdruck der niedergeschlagenen Männer und Frauen vergessen, die zum Regierungssitz am Kapitol marschiert waren? Ihre Bitten waren weitgehend ignoriert worden und der Gesetzgeber hatte den Arbeitslosen jegliche Unterstützung versagt. Das Bild verzweifelter Hoffnungslosigkeit war ihr im Gedächtnis haften geblieben, und wann immer sie daran dachte, kamen ihr fast die Tränen.36