Kapitel 24
Das Ziel der Kirche
Präsident Heber J. Grant und seine Ratgeber machten sich umgehend daran, Harold B. Lees Hilfsprogramm in die Tat umzusetzen. Am 6. April 1936 wurde der Plan bei einer Sondersitzung der Pfahlpräsidentschaften und Bischofschaften vorgestellt. Einige Tage darauf wurde Harold B. Lee von Präsident Grant zum Geschäftsführer ernannt. Er sollte vor allem mit Apostel Melvin J. Ballard und einem zentralen Aufsichtsausschuss zusammenarbeiten.1
Für die nächsten Monate bestand das Hauptziel der Kirche darin, dafür zu sorgen, dass bis zum 1. Oktober jede bedürftige Familie in den Pfählen genug Lebensmittel, Kleidung und Brennmaterial für den Winter hatte. Präsident Grant wollte auch arbeitslose Heilige wieder zur Erwerbstätigkeit hinführen, was ihre Moral stärken, ihnen ihre Würde wiedergeben und zu ihrer finanziellen Sicherheit beitragen sollte.
Um diese Ziele zu erreichen, forderten er und seine Ratgeber die Heiligen auf, den Zehnten in voller Höhe zu zahlen und ihre Fastopferspenden zu erhöhen. Sie wiesen die örtlichen Führungsverantwortlichen der Frauenhilfsvereinigung und des Priestertums auch an, den Bedarf festzustellen und Arbeitsprojekte ins Leben zu rufen, durch die die Not in ihrer Gemeinde gelindert werden könne. Soweit wie möglich sollte die Kirche ebenfalls Arbeitsmöglichkeiten anbieten, etwa bei Instandhaltung und Instandsetzung von Gebäuden, die sich im Besitz der Kirche befanden.
„Keine Mühe darf gescheut werden, um den Empfängern der Hilfeleistung jegliches Gefühl der Verlegenheit oder Scham zu nehmen“, stellte die Erste Präsidentschaft fest. „Die Gemeinde muss eine große Familie Gleichgestellter sein.“2
In der ersten Maiwoche reiste Präsident Grant nach Kalifornien. Er wollte dort einen neuen Pfahl gründen und den Mitgliedern das neue Hilfsprogramm vorstellen.3 Seit der Gründung des Pfahles Los Angeles im Jahr 1923 waren tausende Heilige auf der Suche nach wärmerem Wetter und besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Kalifornien gezogen. Außerdem gab es in Kalifornien mehrere gute Universitäten, an denen schon viele Heilige der Letzten Tage erfolgreich studiert hatten. 1927 gründeten die Führer der Kirche in San Francisco einen Pfahl, dem ein paar Jahre später einer im nahegelegenen Oakland folgte. Nun hatte die Kirche in ganz Kalifornien mehr als sechzigtausend Mitglieder in insgesamt neun Pfählen.4
Präsident Grant verbrachte seinen ersten Abend in Los Angeles damit, mit dem Präsidenten des neuen Pfahls zu sprechen und den Heiligen vor Ort das Hilfsprogramm vorzustellen. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er jedoch nicht den Hilfsplan im Kopf, sondern ihm schwebte vielmehr ein Tempel vor. Er und weitere Führer der Kirche hatten schon seit längerem die Idee verfolgt, außerhalb von Utah in Gebieten mit einer großen Mitgliederzahl einen Tempel zu errichten. Erst unlängst waren sie übereingekommen, in Idaho Falls, einem Städtchen im Südosten von Idaho, einen Tempel zu bauen. Und nun hatte er das starke Gefühl, die Kirche solle in Los Angeles einen Tempel bauen.5
Die Weltwirtschaftskrise flaute bereits ab, und die Kirche hatte die finanziellen Mittel, zwei Tempel zu errichten und gleichzeitig das Hilfsprogramm voranzutreiben. Die Kirche war ja schuldenfrei und stützte sich bei der Finanzplanung auf solide Grundsätze. Die hohen Investitionen, die die Kirche in den frühen 1900er Jahren in die Zuckerproduktion getätigt hatte, warfen nun ebenfalls Gewinne ab. Präsident Grant fand außerdem, die neuen Tempel müssten ja nicht so aufwändig und kostspielig sein wie der Salt-Lake-Tempel. Vielmehr schwebten ihm Tempel von eher bescheidener Größe vor, die den Bedürfnissen der Heiligen dort entsprachen.6
Zunächst musste jedoch die Einrichtung des neuen Hilfsplans an erster Stelle stehen, denn gegen das Programm wurden bereits die ersten Einwände laut. Einige Mitglieder beklagten sich über die zusätzliche Arbeitslast, die es den Gemeinden und Pfählen bescherte. War es denn für die Bedürftigen nicht ausreichend, wenn die Mitglieder treu den Zehnten und das Fastopfer zahlten? Manche befürchteten auch, das Zahlen des Zehnten in Sachspenden – also das Bereitstellen von Waren im örtlichen Vorratshaus – werde zusätzliche Kosten für die Handhabung und Lagerung nach sich ziehen. Andere wiederum waren der Meinung, als Steuerzahler hätten sie ja immerhin Anspruch auf eine staatliche Unterstützung, sofern sie denn dafür in Frage kamen – selbst wenn sie diese eigentlich gar nicht benötigten.7
Präsident Grant war sich bewusst, dass das Programm seine Kritiker hatte, doch er drängte Harold, nicht lockerzulassen. Vieles hing von den nächsten sechs Monaten ab. Der Hilfsplan konnte nur glücken, wenn die Heiligen auch wirklich zusammenarbeiteten.8
In Mexiko setzte sich inzwischen der einundfünfzigjährige Isaías Juárez dafür ein, dass die Kirche in seinem Land nicht in Splittergruppen zerfiel. Schon seit 1926 führte er die Mitglieder in Zentralmexiko als Distriktspräsident an – seit damals nämlich, als die mexikanische Regierung infolge religiöser und politischer Unruhen alle im Ausland geborenen Geistlichen, also auch die amerikanischen Missionare der Heiligen der Letzten Tage, des Landes verwiesen hatte. Auf Anraten von Rey L. Pratt, einer Generalautorität, die zugleich als Missionspräsident im Exil fungierte, besetzten Isaías und weitere mexikanische Heilige die Führungsämter der Kirche rasch durch Einheimische und bewahrten dadurch die Zweige vor einem Zusammenbruch.9
Nun, zehn Jahre später, stand die Kirche in Mexiko vor neuen Problemen. Nach dem unerwarteten Ableben von Elder Pratt im Jahr 1931 berief die Erste Präsidentschaft Antoine Ivins vom Ersten Kollegium der Siebziger als Missionspräsidenten. Antoine Ivins war zwar im Norden Mexikos in den Kolonien der Heiligen der Letzten Tage aufgewachsen und hatte in Mexiko-Stadt Jura studiert, doch er war kein mexikanischer Staatsbürger und konnte daher nicht legal im Land als Missionspräsident dienen. Aus diesem Grund arbeitete er hauptsächlich mit Amerikanern mexikanischer Abstammung, die ihren Wohnsitz im Südwesten der Vereinigten Staaten hatten.10
Den Heiligen in Zentralmexiko fehlte ihr Missionspräsident, vor allem dann, wenn Belange vor Ort sofortige Aufmerksamkeit erforderten. Die Kirche musste zum Beispiel mehr Gemeindehäuser bauen, da es laut dem mexikanischen Gesetz verboten war, in einem Privathaus oder sonst einem nichtkirchlichen Gebäude einen Gottesdienst abzuhalten. Doch die örtlichen Führungsverantwortlichen hatten weder die Vollmacht noch die Mittel, sich dieses Problems anzunehmen.11
Isaías und seine Ratgeber Abel Páez und Bernabé Parra fühlten sich im Stich gelassen und kamen 1932 mit anderen besorgten Heiligen zusammen, um zu besprechen, was zu tun sei. Bei den ersten beiden Treffen, die später Erster und Zweiter Konvent genannt wurden, kamen die Heiligen überein, dass es am besten sei, wenn ein mexikanischer Staatsbürger als Missionspräsident diene. Viele von ihnen hatten sich im Zuge der mexikanischen Revolution auf die Seite jener gestellt, die gegen ausländische Mächte und für die Rechte der mexikanischen Ureinwohner kämpften. Sie hatten genug von ausländischen politischen Führern, die aus der Ferne regierten und nicht auf die Bedürfnisse der Einheimischen einzugehen schienen.12
Die Konventsteilnehmer verfassten mehrere Schreiben, in denen sie sich für eine solche Änderung aussprachen, und sandten diese an den Hauptsitz der Kirche. Die Erste Präsidentschaft reagierte darauf und schickte Antoine Ivins und Melvin J. Ballard nach Mexiko-Stadt, damit diese mit Isaías und den anderen Unterzeichnern der Petition sprechen. Die beiden Besucher versicherten ihnen, dass die Erste Präsidentschaft eine inspirierte Lösung für ihr Führungsdilemma finden werde. Doch Antoine rügte sie auch dafür, dass sie sich direkt an die Erste Präsidentschaft gewandt hatten, ohne sich vorher mit ihm abzusprechen.13
Als Antoines Amtszeit endete, berief die Erste Präsidentschaft Harold Pratt, den jüngeren Bruder von Rey Pratt, zum Missionspräsidenten. Harold war in den mexikanischen Kolonien geboren und durfte sich daher frei im Land bewegen. Innerhalb kurzer Zeit verlegte er demnach den Missionssitz nach Mexiko-Stadt. Einige Mitglieder sträubten sich jedoch gegen seine strenge Aufsicht, andere waren zutiefst enttäuscht, dass er kulturell und ethnisch gesehen eben doch kein Mexikaner war. Sie wünschten sich einen Missionspräsidenten, der den Alltag und die Bedürfnisse derer, denen er diente, voll und ganz verstehen konnte.14
Anfang 1936 beschloss die Erste Präsidentschaft, die Mexikanische Mission entlang der Landesgrenze zu teilen und den Teil im Südwesten der Vereinigten Staaten aus der Mission herauszunehmen. Diese Nachricht ließ einige Heilige hoffen, dass nunmehr ein Mexikaner ihr neuer Missionspräsident werden würde. Als jedoch Harold Pratt sein Amt behielt, wollte eine Gruppe enttäuschter Heiliger einen Dritten Konvent abhalten.
Federführend bei diesen Bestrebungen waren Abel Páez und dessen Onkel Margarito Bautista. Margarito war ein stolzer Mexikaner und sah sich als Nachfahre der Völker des Buches Mormon. Seiner Ansicht nach konnten sich die mexikanischen Mitglieder selbst regieren, und er lehnte jedwede Einmischung von Führern aus den Vereinigten Staaten ab.15
Isaías hatte Verständnis für diese Einstellung, doch er drängte Abel und Margarito, den Konvent nicht stattfinden zu lassen. „Die Organisation der Kirche“, erinnerte er Abel, „gründet sich nicht auf die Petition einer Mehrheit.“ Als die Pläne für den Dritten Konvent weiterverfolgt wurden, schickte Isaías an alle Mitglieder im Missionsgebiet ein Schreiben, in dem er von der Teilnahme abriet.
„Die Sache an sich ist zwar edel“, schrieb er, „doch die Form des Vorgehens ist nicht in Ordnung, da sie gegen den Grundsatz der Vollmacht verstößt.“16
Am 26. April 1936 versammelten sich in Tecalco einhundertzwanzig Mitglieder zum Dritten Konvent. Sie stimmten einstimmig dafür, die Erste Präsidentschaft im Amt zu unterstützen. Da sie meinten, die Führer der Kirche in Salt Lake City hätten ihr früheres Schreiben missverstanden, wollten sie eine neue Petition einreichen, in der sie unmissverständlich einen Missionspräsidenten ihres Volkes und Blutes – „raza y sangre“ – forderten. Die Teilnehmer stimmten in der Folge einstimmig für Abel Páez als Wunschkandidaten – einen Einheimischen mit Erfahrung – für das Amt des Präsidenten der Mexikanischen Mission.17
Nach der Zusammenkunft bemühte sich Isaías gemeinsam mit Harold Pratt um eine Aussöhnung mit Abel und der Konventsgruppe, doch es war vergebens. Im Juni verfasste die Konventsgruppe eine achtzehn Seiten lange Petition an die Erste Präsidentschaft. „Wir bitten Sie ergebenst, uns zweierlei zu gewähren“, verlangten sie darin. „Erstens, dass unsere Kirche uns einen mexikanischen Missionspräsidenten zuerkennt, und zweitens, dass unsere Kirche den von uns aufgestellten Kandidaten billigt und bevollmächtigt.“
Isaías konnte die Gruppe nicht davon abzuhalten, diese Petition einzureichen. Ende des Monats sandten sie sie mit 251 Unterschriften nach Salt Lake City.18
Am 2. Oktober 1936 eröffnete Präsident Heber J. Grant die Generalkonferenz mit einem Fortschrittsbericht über den neuen Hilfsplan, das sogenannte Sicherheitsprogramm der Kirche. Bis zum Monatsersten, so erinnerte er die Heiligen, hatte die Kirche dafür sorgen wollen, dass jeder bedürftige, treue Heilige in allen Pfählen ausreichend Nahrung, Brennmaterial und Kleidung für den kommenden Winter habe.
Obschon erst drei Viertel der Pfähle dieses Ziel erreicht hatten, war er doch zufrieden mit der Schnelligkeit und Effizienz, die die Heiligen in den vergangenen sechs Monaten an den Tag gelegt hatten. „Mehr als fünfzehntausend Menschen haben bei verschiedenen Projekten in Pfahl und Gemeinde mitgearbeitet“, berichtete er. „Hunderttausende von Arbeitsstunden wurden für diesen notwendigen und lobenswerten Zweck geleistet.“19 In Hülle und Fülle waren Getreide und andere Feldfrüchte geerntet, Kleidung war gesammelt und Steppdecken und Bettzeug waren genäht worden. Die Beschäftigungsausschüsse hatten bis zu siebenhundert Menschen eine Arbeitsstelle vermittelt.
„Das Ziel der Kirche besteht darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten“, legte Präsident Grant den versammelten Gläubigen dar. „Wir dürfen mit unseren außerordentlichen Bemühungen erst nachlassen, wenn Not und Leid aus unserer Mitte verbannt sind.“20
Zwei Monate nach der Konferenz kam ein Filmteam nach Salt Lake City, um für die Nachrichtensendung The March of Time, die in den Kinos der Vereinigten Staaten gern gezeigt wurde, einen kurzen Dokumentarfilm über das Sicherheitsprogramm der Kirche zu drehen. Das Filmteam machte Aufnahmen von einigen Sehenswürdigkeiten in Salt Lake City und vom Alltag der Heiligen der Letzten Tage bei der Arbeit auf dem Feld und in den Vorratshäusern und Werkstätten der Kirche. In Zusammenarbeit mit Präsident Grant und weiteren Führern der Kirche filmte das Team auch Besprechungen und Sitzungen zum Sicherheitsplan.21
Da nun also die Heiligen auf die kalte Jahreszeit besser vorbereitet waren, wandte der Prophet seine Aufmerksamkeit abermals dem Tempelbau zu. In jenem Winter erhielt die Kirche am Snake River in Idaho Falls ein Grundstück für einen Tempel geschenkt. Dort gab es bereits eine starke Gemeinschaft treuer Heiliger.22 Präsident Grant kehrte anschließend nach Los Angeles zurück. Er besuchte die dortigen Pfähle und wollte auch der Eingebung nachkommen, dort einen Tempel zu errichten.
In Kalifornien waren die Mitglieder ganz besonders eifrig dabei, das Sicherheitsprogramm umzusetzen. Die Stadt Los Angeles stand bei der Umsetzung des Planes vor einigen Herausforderungen, stützte sich dieser doch auf Landwirtschaft und Viehzucht, wo arbeitslose Mitglieder Beschäftigung finden konnten. Die kalifornischen Pfähle passten das Programm folglich an ihre Lebensumstände an. Sie konservierten Obst aus den vielen Obstplantagen ihres Bundesstaates, und da die Kirche in der Gegend weiterhin wuchs, arbeiteten Mitglieder, die auf Unterstützung angewiesen waren, am Bau neuer Gemeindehäuser mit.23
Allerdings hatten die Heiligen in Kalifornien Mühe mit dem Ziel, die Fastopferspenden zu erhöhen. In einer Ansprache an die Mitglieder des Pfahles Pasadena, nordöstlich von Los Angeles, betonte Präsident Grant die Bedeutung dieses Opfers. „Unter den Mitgliedern würde es keinen Mangel geben“, verhieß er den Versammelten, „wenn alle Heiligen der Letzten Tage einmal im Monat auf zwei Mahlzeiten verzichteten und den dadurch eingesparten Betrag in die Hände des Bischofs legen würden, der ihn dann an die Bedürftigen verteilt.“24
Abgesehen von vielen Sitzungen und Besprechungen begutachtete Präsident Grant auch mögliche Tempelgrundstücke. Er fand viele geeignete Grundstücke, doch sobald er Interesse am Kauf zeigte, verlangten die Eigentümer jedes Mal deutlich mehr, als das Land seiner Meinung nach wert war.25 Das beste Grundstück, das er fand, war ein wunderschönes, fast zehn Hektar großes Gelände direkt an der Hauptverkehrsader zwischen Los Angeles und Hollywood. Er machte ein Angebot für das Grundstück, doch die Antwort des Eigentümers ließ auf sich warten, und er musste bereits nach Salt Lake City zurückkehren.
Am nächsten Tag erhielt er von einem Bischof in Los Angeles ein Telegramm. Der Eigentümer des Grundstücks hatte das Angebot der Kirche angenommen. Der Prophet war überglücklich. „Wir besitzen jetzt das beste Grundstück im ganzen Bundesstaat“, sagte er zu J. Reuben Clark.26
Die Nachricht kam just zu dem Zeitpunkt, da The March of Time in die Kinos kam und landesweit die Aufmerksamkeit in positiver Weise auf die Bemühungen der Heiligen um die Notleidenden lenkte.27 Einige Wochen vor der Erstvorführung fand in einem Kino in Salt Lake City eine private Vorführung für Vertreter der Stadt und Führer der Kirche statt. Präsident Grant befand sich damals noch in Kalifornien und verpasste sie daher. David O. McKay konnte den Film jedoch sehen und lobte ihn in den höchsten Tönen.
„Ein wunderschöner Film“, rief er aus. „So hervorragend und auch so meisterhaft gedreht, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Kirche dafür dankbar sein sollten.“28
Die Kluft zwischen dem Dritten Konvent in Mexiko und der Kirche wurde indes immer tiefer.29 Nach Eingang der Petition antwortete die Erste Präsidentschaft der Konventsgruppe in einem langen Schreiben, in dem erneut auf die Bedeutung der Einhaltung der allgemeinen Richtlinien für die Führung der Kirche in aller Welt hingewiesen wurde.
„Wäre dem nicht so“, erklärte die Präsidentschaft, „würden in der Kirche bald verschiedene Praktiken aufkommen, die zu verschiedenen Lehren führen würden, und am Ende gäbe es in der Kirche keine Ordnung.“30
Sie riefen die Gruppe auf, umzukehren. „Vielleicht wird eines Tages ein Missionspräsident aus eurem Volk ernannt“, schrieben sie, „doch dies wird nur dann der Fall sein, wenn der Präsident der Kirche dies gemäß der Inspiration des Herrn beschließt.“31
Santiago Mora Gonzáles war ein Zweigpräsident aus Zentralmexiko. Er wollte im November 1936 mit anderen Konventsteilnehmern besprechen, was denn nun die Reaktion auf das Schreiben der Ersten Präsidentschaft sein solle. So wie Santiago waren auch andere zwar enttäuscht, doch sie wollten zu der Entscheidung der Ersten Präsidentschaft stehen. Einige andere hingegen waren entrüstet.
Margarito Bautista, der neben Santiago saß, sprang vom Tisch auf: „So eine Ungerechtigkeit!“, rief er aus. Er verlangte, dass die Konventsgruppe sich ein für alle Mal von Harold Pratt abwandte. „Er ist nicht mehr unser Präsident“, polterte Margarito. „Unser Präsident ist unser Freund Abel!“
Santiago war entsetzt. Zu Jahresbeginn hatte er von Margarito wissen wollen, was sie denn für den Fall planten, dass die Führung der Kirche der Petition nicht zustimme. Margarito hatte ihm zugesichert, sie würden weiterhin – wie auch immer die Antwort ausfallen mochte – Harold als Missionspräsidenten unterstützen und hoffen, er werde die von ihnen aufgeworfenen Fragen berücksichtigen. Doch nun hatte es den Anschein, als ob die Konventsgruppe zur offenen Rebellion aufrief.
„So war das aber nicht vereinbart“, sagte Santiago seinem Freund.
„Ja, aber es ist so ungerecht“, wiederholte Margarito.
„Dann stehen wir also nicht zu unserem Wort“, stellte Santiago fest.
Am Abend sprach Santiago mit seiner Frau Dolores. „Was machen wir denn jetzt?“, wollte er wissen. „Ich will mich keinesfalls gegen die Kirche stellen.“
„Dann überleg es dir gut“, meinte Dolores.32
Bald darauf kam Santiago mit mehr als zweihundert Konventsteilnehmern zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Über das Schreiben der Ersten Präsidentschaft waren viele von ihnen genauso verärgert wie Margarito. Doch dass mittlerweile Gerüchte die Runde machten, Margarito wolle mehrere Zweitfrauen ehelichen, wie er das als Neubekehrter in den mexikanischen Kolonien erlebt hatte, war nicht minder beunruhigend. Als sich die Gerüchte letztlich bestätigten, fanden die Konventsteilnehmer sein Verhalten so untragbar, dass sie ihn ausschlossen.33
Santiago war innerlich aufgewühlt, dass Margarito, einer der Hauptinitiatoren des Konvents, auf Abwege geraten war. Santiago besuchte noch einige Treffen, doch dann sagte er sowohl seiner Frau als auch einigen Konventsteilnehmern, er wolle der Gruppe nicht länger angehören. Er und weitere enttäuschte Mitglieder der Gruppe suchten bald darauf Harold auf und erzählten ihm von ihrem Wunsch, sich wieder ganz mit der Kirche zu vereinen. Sie wollten wissen, was sie tun müssten, um zurückzukehren.
Harold entgegnete: „Es gibt da keinerlei Bedingungen, Brüder. Ihr gehört weiterhin der Kirche an. Ihr seid nach wie vor Mitglieder.“34
Santiago diente weiterhin treu als Präsident seines Zweiges. Der Dritte Konvent blieb unter den Heiligen in Mexiko eine relativ unbedeutende Bewegung, nichtsdestotrotz zog sie hunderte von Mitgliedern mit sich. Weitere Aussöhnungsversuche scheiterten, und schließlich sandten die Anführer der Gruppe einen weiteren Brief an die Erste Präsidentschaft und erklärten darin, sie lehnten die Führung durch diesen Missionspräsidenten rundweg ab.
Die Führungsverantwortlichen in Mexiko reagierten kurze Zeit später mit dem Ausschluss von Abel Páez, Margarito Bautista und weiteren Anführern des Dritten Konvents. Diese alle verloren im Mai 1937 wegen Auflehnung, Widersetzlichkeit und Abtrünnigkeit ihre Mitgliedschaft in der Kirche.35
Im Frühjahr arbeitete der achtzehnjährige Paul Bang fleißig in seinem Zweig in Cincinnati im Osten der Vereinigten Staaten mit. Er war nicht nur Priester im Aaronischen Priestertum, sondern auch Zweigsekretär, Sekretär in der GFV und Missionar vor Ort.
Sonntag für Sonntag gingen er und weitere örtliche Missionare in der Stadt von Tür zu Tür und verkündeten das Evangelium. Einer seiner Mitarbeiter war Gus Mason. Dieser war alt genug, sein Vater zu sein, und versuchte stets, ein Auge auf ihn zu haben. Als sie zum ersten Mal gemeinsam Missionsarbeit verrichteten, klopfte Paul allein an eine Tür und wurde hineingebeten. Gus ging in der Zwischenzeit nervös die Straßen auf und ab, weil er ihn nirgendwo finden konnte. Von da an klopften sie stets gemeinsam an die Türen.36
Paul sprach gerne über die Kirche. Er hatte ja – im Gegensatz zu den jungen Männern in Utah – fast nur Menschen um sich, die nicht seiner Religion angehörten. Es machte ihm Freude, sich mit dem wiederhergestellten Evangelium zu befassen und sich Notizen zu dem zu machen, was er lernte. In seiner Freizeit las er die heiligen Schriften und Bücher der Kirche wie etwa A Young Folk’s History of the Church von Nephi Anderson oder Jesus der Christus und Die Glaubensartikel von James E. Talmage. Normalerweise las er diese Bücher, während er sonntags am Nachmittag im Laden stand, denn da kamen nur wenige Kunden zum Einkaufen vorbei.37
Paul und seine Freundin Connie Taylor waren bei den Versammlungen der Kirche und den GFV-Aktivitäten praktisch unzertrennlich.38 Alvin Gilliam hatte Anfang 1936 Charles Anderson als Zweigpräsidenten abgelöst. Er unterstützte die Beziehung von Paul und Connie. In den letzten zehn Jahren hatte sich der Zweig zahlenmäßig mehr als verdoppelt, was zu einem Teil auch daran lag, dass junge Mitglieder heirateten, im Zweig blieben und eine Familie gründeten.
Durch die Wirtschaftskrise waren viele Menschen sowohl physisch als auch geistig entwurzelt, was zu einem gewissen Wachstum einerseits durch Bekehrte vor Ort und andererseits auch durch Mitglieder führte, die aus wirtschaftlich schwächeren Gegenden wie etwa Utah oder dem amerikanischen Süden nach Cincinnati zogen. Andere kamen von noch weiter her, darunter eine Familie deutscher Mitglieder aus Buenos Aires in Argentinien. Unlängst erst hatte Judy – Pauls Schwester – Stanley Fish geheiratet, einen jungen Mann aus Arizona, der nach Cincinnati zurückgekehrt war, nachdem er dort auf Mission gewesen war.39
Am 6. Juni 1937 fuhren Paul, Connie und weitere Mitglieder des Zweiges mehr als einhundertfünfzig Kilometer weit, um auf einer Missionskonferenz im Nachbarstaat Präsident David O. McKay sprechen zu hören. Paul und Connie lauschten aufmerksam, als Präsident McKay über die Heiligkeit der Partnersuche und der Ehe sprach. Als Paul am Abend Connie bei ihren Eltern absetzte, sagte sie ihm zum ersten Mal, dass sie ihn liebe.40
Kurze Zeit später sprach Präsident Gilliam mit Paul darüber, ob er nicht auf Vollzeitmission gehen wolle. Damals wurde nicht von jedem würdigen jungen Mann erwartet, dass er auf Mission gehe, und falls Paul ginge, wäre er der erste Vollzeitmissionar aus dem Zweig Cincinnati.41 Paul war sich seiner Sache jedoch nicht so sicher. Angesichts des Mangels an Missionaren im Zuge der Weltwirtschaftskrise konnte die Kirche seine Hilfe bestimmt gut gebrauchen. Doch er musste ja auch an seine Familie und das Geschäft denken. Seine älteren Brüder waren bereits von zuhause weggezogen, und er wusste, dass seine Eltern auf ihn angewiesen waren.42
Letztendlich entschied sich Paul gegen eine Vollzeitmission. Er arbeitete aber weiterhin als Zweigmissionar und taufte am 1. August, zwei Tage nachdem er auf einer Straßenversammlung gepredigt hatte, sechs Menschen in einem Schwimmbad. Im Herbst beriefen Präsident Gilliam und Bryant Hinckley, der Präsident der Nordstaaten-Mission, Connie ebenfalls als Zweigmissionarin.43
Es dauerte nicht lange, da zogen Paul und Connie gemeinsam durch die Straßen, verteilten Literatur über die Kirche und predigten jedem, der ihnen zuhören wollte. Zu Connies neunzehntem Geburtstag im Mai 1938 überraschte Paul sie mit einer Bibel und einem Exemplar von Jesus der Christus – zwei Büchern also, die sie in ihrer neuen Berufung gut gebrauchen konnte.
Eine Zeit lang scherzte er auch darüber, ihr einen Verlobungsring schenken zu wollen. Aber die beiden hatten ja noch ein Jahr Highschool vor sich und wollten eigentlich nicht so früh heiraten.44