Kapitel 35
Wir können nicht scheitern
Zu Beginn des Jahres 1950 verschärfte sich der Kalte Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Unter sowjetischem Einfluss machten die neuen kommunistischen Regierungen in Mittel- und Osteuropa die Grenzen dicht und veränderten sowohl die Gesellschaft als auch die Wirtschaftsform. Zur gleichen Zeit verbündeten sich mehrere westeuropäische Länder mit den Vereinigten Staaten und Kanada zu ihrer Verteidigung gegen mögliche Angriffe kommunistischer Länder. Ein Wettlauf um Aufrüstung und den Bau von Waffen begann, nachdem die Sowjetunion ihren ersten erfolgreichen Kernwaffentest durchgeführt und die Welt mit der Detonation einer Bombe, wie sie die Vereinigten Staaten im Krieg gegen Japan eingesetzt hatten, überrascht hatte.1
In der Tschechoslowakei bereiteten sich Wallace und Martha Toronto, die Leiter der Mission, auf eine mögliche Ausweisung vor. Die kommunistische Regierung des Landes, die sowohl das Ehepaar als auch die Missionare weiterhin genau im Visier behielt, hatte vor kurzem ein Gesetz erlassen, das die Religionsfreiheit einschränkte und es Ausländern verbot, im Land ein kirchliches Führungsamt auszuüben. Mittlerweile waren schon zwölf Missionare der Heiligen der Letzten Tage des Landes verwiesen worden, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Regime auch die übrigen zur Ausreise zwang.
Wallace berichtete der Ersten Präsidentschaft von der Krise. Als Antwort wurde ihm geraten, seine Familie und die meisten Missionare außer Landes zu bringen. Dennoch hofften Präsident George Albert Smith und seine Ratgeber immer noch, dass Wallace und ein oder zwei Missionare, die als seine Assistenten dienten, in der Tschechoslowakei bleiben durften.
„Ihr wart treu und furchtlos“, stellte die Erste Präsidentschaft fest. „Wir werden den Herrn weiterhin um göttliche Führung für euch bitten und uns auf seine erhabene Macht verlassen, damit seine Kirche in diesem schönen Land gefahrlos gedeihen kann.“2
Am Montag, dem 30. Januar, informierten Mitglieder des Zweiges Prostějov Wallace, dass Stanley Abbott und Aldon Johnson, die beiden in der Stadt tätigen Missionare, am Tag zuvor nicht in der Sonntagsschule gewesen waren. Zunächst hatten die Heiligen angenommen, die Missionare hätten entweder den Zug verpasst oder seien durch den starken Schneefall verhindert gewesen. Aber inzwischen hatten die Mitglieder des Zweiges in Erfahrung gebracht, dass die Wohnung der Missionare durchsucht worden war und dass die Geheimpolizei auch einen Heiligen der Letzten Tage aus der Gegend verhört hatte. Nun befürchtete man das Allerschlimmste.
Wallace kontaktierte die amerikanische Botschaft und begab sich sofort nach Prostějov. Über diplomatische Kanäle erfuhr er, dass die beiden Missionare inhaftiert worden waren, weil sie versucht hatten, ein Mitglied in einem Arbeitslager zu besuchen.
Aus Tagen wurden Wochen und schließlich verweigerte die tschechoslowakische Regierung jeglichen direkten Kontakt zu Wallace. Die örtliche Polizei in Prostějov verbot den Heiligen, in der Stadt weiterhin Versammlungen abzuhalten, und einige Mitglieder des Zweiges wurden verhört und schikaniert. Bis zum 20. Februar hatte Wallace veranlasst, dass elf weitere Missionare außer Landes gebracht wurden, aber niemandem aus der Mission war es gestattet, Elder Abbott oder Elder Johnson zu besuchen oder mit ihnen zu sprechen.
Die inhaftierten Missionare wurden voneinander getrennt gehalten, und Elder Abbott war sogar in Einzelhaft. Im Gefängnis bekamen die Missionare morgens ein Stück Schwarzbrot und abends einen Teller Suppe. Sie konnten weder baden noch ihre Kleidung wechseln. Bei den Verhören drohte die Geheimpolizei damit, sie mit Eisenstangen zu schlagen und jahrelang einzusperren, wenn sie nicht zugäben, dass sie Spione seien.3
Am 24. Februar nahm Martha einen Anruf des amerikanischen Botschafters entgegen. Die tschechoslowakische Regierung hatte die inhaftierten Missionare nach Prag verlegt und war bereit, sie freizulassen, wenn sie versprachen, das Land innerhalb von zwei Stunden zu verlassen. Martha buchte umgehend zwei Tickets für einen Flug in die Schweiz. Daraufhin nahm sie Kontakt zu Wallace auf, und die beiden trafen sich gleich am Flughafen, wo die Missionare hingebracht werden sollten.
Am Flughafen konnte Wallace den Missionaren nur schnell ihre Tickets zustecken und ihnen ein paar Anweisungen geben. Martha stand unterdessen auf einer Aussichtsplattform. Als sie sah, wie die Polizei die beiden jungen Männer zu einem Flugzeug brachte, winkte sie ihnen zu. Die Missionare sahen mager und ungepflegt aus. Sie rief ihnen zu und erkundigte sich, ob es ihnen gut gehe.
„Ja“, antworteten die beiden und winkten zurück. Dann stiegen sie in den Flieger, und Martha sah zu, wie das Flugzeug in den düsteren Wolken über der Stadt verschwand.4
In den darauffolgenden Tagen bereitete Martha in Windeseile die Ausreise ihrer Familie vor. Sie hatte vor, mit den sechs Kindern, darunter einem Säugling, allein zu reisen, während Wallace in der Tschechoslowakei bleiben wollte, solange die Regierung dies erlaubte.
Am Tag vor ihrer Abreise aß die Familie gerade zu Mittag, als Männer in Lederjacken zum Missionsheim kamen und nach Wallace verlangten. Martha wusste sofort, dass es die Geheimpolizei war. Sie war bereits krank und seelisch erschöpft, und die Anwesenheit der Geheimpolizisten machte alles noch schlimmer. Nach allem, was den Missionaren und vielen tschechoslowakischen Bürgern schon widerfahren war, konnte niemand wissen, was die Polizei ihrem Mann antun würde.
„Martha, ich muss mit den Männern mitgehen“, sagte Wallace. Er war sich sicher, dass sie ihn über die kürzlich ausgewiesenen Missionare befragen wollten. „Falls ich nicht zurückkomme“, fügte er noch hinzu, „nimm morgen früh die Kinder und bring sie wie geplant nach Hause.“
Die Stunden vergingen, ohne dass Wallace sich meldete, und es sah ganz so aus, als müsste Martha abreisen, ohne überhaupt zu erfahren, was mit ihrem Mann geschehen war. Doch sieben Stunden nachdem die Polizei ihn abgeführt hatte, kehrte Wallace noch rechtzeitig zurück, um seine Familie zum Zug zu bringen.
Am Bahnhof hatte sich eine Gruppe von Mitgliedern versammelt, die Pakete mit Obst, Backwaren und belegten Broten für Martha und die Kinder dabei hatten. Einige Heilige reichten das Essen noch durch die Fenster des Zuges, als dieser sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Andere liefen den Bahnsteig entlang und warfen der Familie Küsse zu. Martha blickte ihnen mit Tränen in den Augen nach, bis der Zug um eine Kurve fuhr und der Bahnhof ihrem Blick entschwand.5
„Präsident Mauss kommt nach Nagoya. Können Sie sich dort mit ihm treffen?“
Die Frage der Missionare kam für Toshiko Yanagida unerwartet. Seit sie dem neuen Präsidenten der Japanischen Mission geschrieben hatte, er möge in ihrer Heimatstadt Nagoya doch einen japanischsprachigen Zweig gründen, wartete sie schon darauf, von ihm zu hören. Präsident Mauss hatte aber nie zurückgeschrieben, sodass sie nicht einmal sicher war, ob er das Schreiben überhaupt erhalten hatte.6
Toshiko erklärte sich natürlich zu dem Treffen bereit, und die Missionare und sie holten Präsident Mauss kurze Zeit später vom Bahnhof ab. Kaum war er angekommen, fragte sie ihn, ob er ihren Brief gelesen habe. „Allerdings“, antwortete er. „Deshalb bin ich ja hier.“ Er wollte, dass sie sich mit ihm auf die Suche nach einem geeigneten Versammlungsort machte. Toshiko war begeistert.7
Sie begannen sofort mit der Suche. Es gab nicht viele Heilige in Nagoya. Nur die Missionare, Toshikos Familie und eine Frau namens Yoshie Adachi gehörten in einer Stadt mit sechshunderttausend Einwohnern der Kirche an – also brauchten sie nicht viel Platz für ihre Versammlungen. Dennoch wollte Präsident Mauss in einer großen Schule in der Stadt einen Hörsaal mieten.
Im Januar 1950 hielten die Mitglieder in Nagoya ihre erste Sonntagsschule ab. Toshiko und die Missionare legten Handzettel in eine Lokalzeitung, um auf die Veranstaltung aufmerksam zu machen. An besagtem Sonntag kamen hundertfünfzig Personen in den Versammlungsraum. In den Nachkriegsjahren waren Versammlungen der Kirche in Japan oft gut besucht, da viele Menschen nach dem Trauma, das sie erlebt hatten, Hoffnung und Sinn suchten.8 Aber die meisten verloren das Interesse bald wieder, als das Land wirtschaftlich stabiler wurde. Da weniger Menschen das Bedürfnis hatten, sich dem Glauben zuzuwenden, ging auch die Zahl der Anwesenden bei den Versammlungen wieder zurück.9
Toshiko und ihr Mann Tokichi hatten ebenfalls Probleme mit dem einen oder anderen Aspekt ihrer Lebensweise als Mitglied der Kirche. Insbesondere das Zahlen des Zehnten fiel ihnen schwer. Tokichi verdiente nicht viel. Manchmal hatten sie kaum genug Geld, um das Schulessen für ihren Sohn zu bezahlen. Ihr großer Traum war es, ein Haus kaufen zu können.
Nach einer Versammlung sprach Toshiko mit einem Missionar über den Zehnten. „Wir Japaner sind jetzt nach dem Krieg sehr arm“, erklärte sie. „Der Zehnte ist hart für uns. Müssen wir ihn denn zahlen?“10
Der Missionar erwiderte, dass Gott allen Menschen geboten habe, den Zehnten zu zahlen. Er sprach auch von den Segnungen, die sich aus dem Befolgen dieses Grundsatzes ergeben. Toshiko war skeptisch – und auch ein bisschen verärgert. „So eine Denkweise ist doch typisch amerikanisch“, dachte sie sich.
Aber auch andere Missionare ermutigten sie dazu, im Glauben zu handeln. Eine Missionarin versicherte Toshiko, dass das Zahlen des Zehnten ihrer Familie helfen werde, ihr Ziel zu erreichen und zu einem eigenen Haus zu kommen. Toshiko und Tokichi wollten gehorsam sein. Sie beschlossen, ihren Zehnten zu zahlen und darauf zu vertrauen, dass sie dafür gesegnet werden.11
Zu dieser Zeit begannen die Missionarinnen, in ihrer Wohnung für Toshiko und andere Frauen aus der Gegend zwanglose Treffen der Frauenhilfsvereinigung abzuhalten. Sie sprachen über das Evangelium, tauschten Haushaltstipps aus und lernten, wie man mit einem geringen Budget gesunde Mahlzeiten zubereitet. Wie viele FHV-Gruppen in anderen Teilen der Welt veranstalteten auch sie Basare, auf denen sie Schokolade und allerlei anderes verkauften, um Geld für ihre Aktivitäten zu sammeln. Ungefähr ein Jahr nachdem die Mitglieder der Kirche in Nagoya begonnen hatten, Versammlungen abzuhalten, wurde die Frauenhilfsvereinigung offiziell gegründet – und Toshiko wurde Leiterin.12
Toshiko und Tokichi erlebten nun mehr und mehr, dass sich das Zahlen des Zehnten als Segen erwies. Sie kauften ein günstiges Grundstück in der Stadt und entwarfen Pläne für ein Haus. Ein neues Regierungsprogramm versetzte sie in die Lage, einen Kredit aufzunehmen. Kaum hatten sie die Baugenehmigung erhalten, begannen sie mit dem Fundament.
Alles lief gut – bis ein Bauinspektor feststellte, dass das Grundstück für die Feuerwehr unzugänglich war. „Dieses Grundstück ist für den Bau eines Hauses ungeeignet“, beschied er. „Sie dürfen den Bau nicht fortsetzen.“
Unsicher, was sie tun sollten, sprachen Toshiko und Tokichi mit den Missionaren. „Wir sechs werden für Sie fasten und beten“, sagte ein Missionar. „Bitte tun Sie dasselbe.“
Die nächsten zwei Tagen fasteten und beteten die Yanagidas gemeinsam mit den Missionaren. Kurz darauf begutachtete ein weiterer Inspektor das Grundstück. Er hatte den Ruf, streng zu sein, und machte den Yanagidas anfangs wenig Hoffnung. Doch als er sich das Gelände ansah, entdeckte er eine Lösung. Die Feuerwehr konnte im Notfall das Grundstück erreichen, indem sie einfach einen nahegelegenen Zaun entfernte. Familie Yanagida konnte ihr Haus also doch bauen!
„Ich vermute, Sie beide haben in der Vergangenheit etwas außergewöhnlich Gutes getan“, sagte der Inspektor zu ihnen. „In meiner gesamten Dienstzeit hatte ich noch nie das Gefühl, jemandem entgegenkommen zu müssen.“
Toshiko und Tokichi waren überglücklich. Sie hatten gefastet, gebetet und den Zehnten gezahlt. Es war gekommen, wie die Missionarin gesagt hatte: Sie sollten nun bald ihr eigenes Haus bekommen.13
Anfang 1951 setzte sich David O. McKay mit den Problemen auseinander, vor denen das Missionsprogramm der Kirche stand. In den vergangenen sechs Monaten hatte er aus der Ferne beobachtet, wie sich ein weiterer internationaler Konflikt anbahnte – diesmal in Ostasien. Mit Rückendeckung durch China und die Sowjetunion befand sich das kommunistische Nordkorea im Krieg mit Südkorea. Aus Angst vor der Ausweitung des Kommunismus hatten die Vereinigten Staaten und andere Verbündete Truppen entsandt, um die Südkoreaner in ihrem Kampf zu unterstützen.14
Zu dem Zeitpunkt hatte die Kirche etwa fünftausend Vollzeitmissionare, die fast alle aus den Vereinigten Staaten stammten, und jeden Monat wurden hunderte neue Missionare berufen.15 Doch mit dem Krieg in Korea wurden nun mehr Soldaten benötigt, und die Regierung der Vereinigten Staaten zog wiederum junge Männer im Alter von neunzehn bis sechsundzwanzig Jahren ein – also genau die Altersgruppe der meisten Missionare. Nach reiflicher Überlegung setzte die Erste Präsidentschaft das Missionsalter vorübergehend von zwanzig auf neunzehn Jahre herab, um jungen Männern die Möglichkeit zu geben, eine Mission zu erfüllen, bevor sie den Versuchungen des Soldatenlebens ausgesetzt waren – falls sie eingezogen werden sollten.16
Als Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, der für die Missionsarbeit zuständig war, sah sich Präsident McKay bald von vielen Seiten unter Druck gesetzt. Einerseits erhielt er mitunter Briefe von Mitgliedern, die den Führern der Kirche vorwarfen, sie wären parteiisch und würden manche jungen Männer für eine Mission empfehlen und ihnen so die Möglichkeit geben, den Militärdienst aufzuschieben, während andere nicht empfohlen wurden und folglich zum Militär mussten. Andere Bürger und auch die örtlichen Einberufungsbehörden warfen der Kirche andererseits vor, die Kirche entziehe sich ihrer patriotischen Verantwortung, indem sie weiterhin junge Männer auf Mission berufe.17
Die Führer der Kirche sahen das allerdings nicht so. Sie hatten die Heiligen schon seit langem aufgefordert, dem Aufruf ihres Heimatlandes zu folgen, wann immer er denn käme.18 Trotzdem nahm die Erste Präsidentschaft nach Rücksprache mit der Einberufungsbehörde in Utah weitere Änderungen an der bestehenden Regelung vor. Für die Dauer des Krieges, so legten sie fest, sollten junge Männer, die für den Militärdienst tauglich waren, nicht mehr als Vollzeitmissionare berufen werden. Berufungen würden nur an unverheiratete Frauen, ältere Männer, verheiratete Paare, Veteranen und junge Männer, die für den Militärdienst untauglich waren, ergehen. Zusätzlich berief die Kirche nun mehr ältere Ehepaare auf Mission.19
Während Präsident McKay in jenem Winter mit Vertretern der Einberufungsbehörde verhandelte, ging es Präsident George Albert Smith gesundheitlich immer schlechter. Präsident McKay besuchte den Propheten an seinem Geburtstag am 4. April und fand ihn, umgeben von seiner Familie, dem Tode nahe. Voller Rührung segnete Präsident McKay den Propheten nur wenige Stunden vor dessen Tod.20
Zwei Tage später eröffnete Präsident McKay die erste Versammlung der Frühjahrs-Generalkonferenz 1951. Vom Pult des Tabernakels aus sprach er über das vorbildliche Leben von Präsident Smith. „Er war eine edle Seele“, sagte er. „Er war am glücklichsten, wenn er andere glücklich machen konnte.“
Später bestätigten die Heiligen auf der Konferenz David O. McKay als Präsidenten der Kirche. Stephen L. Richards und J. Reuben Clark wurden seine Ratgeber. „Niemand kann über diese Kirche präsidieren, der nicht mit dem Oberhaupt der Kirche, unserem Herrn und Erretter Jesus Christus, in Einklang ist“, erklärte Präsident McKay den Heiligen in seiner Schlussansprache. „Ohne seine Führung und beständige Inspiration können wir nichts zuwege bringen. Aber mit seiner Weisung und Inspiration können wir nicht scheitern.“21
Als der neue Prophet nun nach vorn blickte, konnte er auf jahrzehntelange Erfahrung zurückgreifen. Seine große, würdevolle Gestalt, sein durchdringendes Auge und das weiße Haar verliehen ihm nach Meinung vieler eindeutig das Aussehen eines Propheten. Wegen seines feinen Humors, seiner Güte und seiner Geistigkeit wurde er von Männern und Frauen innerhalb und außerhalb der Kirche gemocht. Seine Jahre als Lehrer und Schulleiter hatten seine Persönlichkeit dauerhaft geprägt. Unter Druck blieb er stets gelassen und handelte entschlossen, und er war ein fesselnder Redner, der in seinen Ansprachen oft Gedichte zitierte. Wenn er gerade nicht für die Kirche tätig war, arbeitete er auf der Farm seiner Familie in Huntsville in Utah.
Gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft lastete so manches schwer auf Präsident McKay. Als Apostel hatte er oft über die Heiligkeit und den Stellenwert von Ehe, Familie und Bildung gesprochen. Diese Themen waren ihm stets ein Anliegen, was auch dazu führte, dass er die Kirche hierbei auf einem guten Weg zu führen vermochte. Das Ende des Zweiten Weltkriegs hatte in den Vereinigten Staaten für eine Geburtenwelle gesorgt, da die Soldaten nach Hause zurückkehrten, heirateten und eine Familie gründeten. Mit staatlicher Unterstützung hatten viele dieser Männer zu studieren begonnen, um sich beruflich weiterzubilden. Auch Präsident McKay wollte sie dabei gern unterstützen.22
Der Schrecken des Koreakrieges sowie die Ausbreitung des Kommunismus in einigen Teilen der Welt versetzten ihn in Sorge. Viele Vertreter aus Regierung und kirchlichen Kreisen sprachen sich damals gegen den Kommunismus aus. Wie sie alle war auch Präsident McKay der Ansicht, dass die kommunistischen Regimes die Religionsausübung unterdrückten und die Freiheit der Bürger einschränkten.
„Die Kirche Christi steht für den Einfluss der Liebe“, erklärte er kurz nach der Generalkonferenz, „und das ist letztlich die einzige Macht, die der Menschheit Erlösung und Frieden bringen wird.“23
In jenem Frühjahr merkte Adele Cannon Howells, die Präsidentin der Primarvereinigung der Kirche, in Salt Lake City, dass ihre Gesundheit nachließ. Sie war zwar erst fünfundsechzig, doch seit ihrer Kindheit war ihr Herz durch eine Erkrankung an Rheumatischem Fieber geschädigt. Trotz ihres Zustands wollte sie jedoch keinesfalls mit der Arbeit aufhören.24
Ihr Projekt, für das fünfzigjährige Bestehen der Kinderzeitschrift Children’s Friend eine Serie von Bildern aus dem Buch Mormon in Auftrag zu geben, kam endlich voran. Obwohl nicht jeder der Meinung war, dass die Beauftragung eines professionellen Künstlers wie Arnold Friberg die Zeit und das Geld wert war, war Adele der Ansicht, dass die Bilder das Interesse der Kinder am Buch Mormon wecken und somit die Kosten allemal wert sein würden.25
In den letzten zwei Jahren hatte sie dazu auch die Unterstützung der Sonntagsschule gewonnen und die Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel davon überzeugt, dass sich die Gemälde lohnen würden. Adele und die Amtsträger der Sonntagsschule stellten ein Komitee zusammen, das für das Projekt zuständig war, und gaben einige von Arnolds Skizzen an Präsident McKay und seine Ratgeber weiter.26
Im Januar 1951 trafen Adele und ein Vertreter der Sonntagsschule mit der Ersten Präsidentschaft zusammen, um die Entwürfe zu besprechen.27 Sowohl sie als auch Arnold wollten Geschichten aus dem Buch Mormon darstellen, die voll geistiger Kraft und packender Handlungen waren, zum Beispiel, wie Helamans junge Krieger in die Schlacht zogen oder wie Samuel der Lamanit die Geburt des Erretters prophezeite. Arnold wollte nicht, dass die Bilder vom Stil her irgendwie kindlich sein sollten. Seiner Ansicht nach sollten die Kinder das Wort Gottes als machtvoll und erhaben erleben. Er wollte die Helden des Buches Mormon als kraftvoll und beinahe schon übermenschlich darstellen. „Die Muskulosität auf meinen Bildern soll Ausdruck der inneren Geisteshaltung sein“, erklärte er später.28
Die Erste Präsidentschaft stimmte mit Adele darin überein, dass Arnold der richtige Künstler für diese Aufgabe sei.29 Die Sonntagsschule und das kircheneigene Verlagsunternehmen Deseret Book verpflichteten sich, zwei Drittel der anfänglichen Kosten zu übernehmen, während Adele das andere Drittel aus eigener Tasche bezahlen wollte.30 In den folgenden Monaten leiteten sie und Arnold für die Gemälde alles in die Wege, während sich Adeles Gesundheitszustand weiter verschlechterte. Schon bald war sie ans Bett gefesselt.31
Am Abend des 13. April veranlasste Adele den Verkauf einiger ihrer Vermögenswerte, um die Gemälde bezahlen zu können.32 Sie rief auch Marion G. Romney, einen Assistenten des Kollegiums der Zwölf Apostel, an, um mit ihm über das Buch Mormon und die Kinder in der Kirche zu sprechen. Sie sprach über die Gemälde und ihren Wunsch, sie im kommenden Jahr fertigstellen zu lassen. Sie verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, dass alle Kinder in der Kirche schon früh damit beginnen würden, im Buch Mormon zu lesen.
Am darauffolgenden Nachmittag verstarb Adele. Bei der Beerdigung würdigte Elder Romney die künstlerisch begabte und tatkräftige Frau, die sich so großzügig für die Primarvereinigung eingesetzt hatte. „Sie liebte die Arbeit mit den Kindern sehr“, erzählte er. „Jeder Mensch, mit dem sie in Kontakt kam, verspürte ihre tiefe Liebe zu jedem Einzelnen.“33
Kurze Zeit später begann Arnold Friberg mit seinem ersten Gemälde zum Buch Mormon: Jareds Bruder sieht den Finger des Herrn.34
In der Nähe der Stadt Valence im Südosten Frankreichs ging damals gerade Jeanne Charrier mit ihrer Cousine spazieren. Valence lag an der Rhône und war ein wunderschöner Ort mit einer jahrhundertealten romanischen Kathedrale. Die meisten Menschen in der Stadt waren katholisch, doch Jeanne und ihre Familie gehörten zu den wenigen Protestanten. Über Generationen hinweg hatten sie für ihren Glauben Ansehen und sogar ihr Leben riskiert.35
Jeanne war als gläubige Christin aufgewachsen, doch während ihres Mathematik- und Philosophiestudiums stieß sie auf Anschauungen, die sie an ihrem Glauben zweifeln ließen. Sie dachte über die berühmten Worte des französischen Philosophen René Descartes nach, der gesagt hatte: „Ich denke, also bin ich.“ Doch auch diese Erkenntnis warf nur noch mehr Fragen auf. Sie fragte sich: „Ich bin wo, wie und warum?“
Einige Zeit vor Jeannes Spaziergang über die Hügel hatten ihre Fragen sie dazu gedrängt, niederzuknien und den Herrn zu suchen. „Gott“, betete sie, „wenn es dich gibt, dann warte ich auf eine Antwort.“36
Jeanne und ihre Cousine hatten auf ihrem Spaziergang nichts zu trinken dabei und wurden bald durstig. Sie begegneten ein paar Spaziergängern und baten um etwas Wasser. Ein älterer Mann und eine ältere Frau, die sich als Léon und Claire Fargier vorstellten, waren äußerst zuvorkommend. Sie waren Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, und die beiden jungen Männer, die sie begleiteten, waren Missionare. Die Gruppe bot Jeanne und ihrer Cousine eine Broschüre über die Kirche an, und Léon lud sie zur bevorstehenden Missionskonferenz und zum Konzert eines Streichquartetts der Brigham-Young-Universität ein.37
Aus Neugierde ging Jeanne tatsächlich hin. Auf der Konferenz schenkte ihr jemand ein Buch Mormon. Als sie nach Hause kam und anfing, es zu lesen, konnte sie nicht mehr aufhören. „Das ist wirklich etwas Besonderes“, dachte sie bei sich.38
Ab da verbrachte Jeanne viel Zeit mit den Fargiers. Léon und Claire waren bereits seit dreizehn Jahren verheiratet gewesen, als sie sich 1932 hatten taufen lassen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Léon als Missionar tätig gewesen und hatte die Sonntagsversammlungen einer kleinen Gruppe von Heiligen aus Valence und dem gut sechzig Kilometer entfernten Grenoble geleitet.39 Als der Krieg begann und die amerikanischen Missionare das Land verlassen mussten, hatte Léon ein viel größeres Gebiet zu betreuen. Er reiste durch ganz Frankreich, segnete die Kranken und teilte das Abendmahl aus. An manchen Tagen gelang es ihm, mit dem Zug zwei Städte zu erreichen, aber meistens ging er zu Fuß oder fuhr mit dem Fahrrad, manchmal sogar stundenlang.40
Als Léon und Claire dann Jeanne kennenlernten, waren die beiden Missionare im Zweig Valence. Die kleine Gemeinde, die nach den Zerstörungen des Krieges mit dem Wiederaufbau beschäftigt war, traf sich in einer Pension. Trotz der bescheidenen Umstände fühlte sich Jeanne in den Versammlungen wohl und wollte unbedingt mehr über das Evangelium erfahren. Sie bat um weitere Bücher und erhielt eine Ausgabe des Buches Lehre und Bündnisse. Als sie das Buch las, konnte sie die Macht der Worte darin nicht leugnen.
„Das ist wahr“, stellte sie fest. „Es kann gar nicht anders sein.“41
Schon bald wollte sich Jeanne taufen lassen, aber sie machte sich Sorgen, wie ihre Familie wohl reagieren würde. Ihre Angehörigen waren erbitterte Gegner der Kirche und Jeanne war bewusst, dass sie ihre Entscheidung niemals gutheißen würden. Eine Zeit lang fühlte sie sich zwischen ihrem Glauben und ihrer Familie hin- und hergerissen und zögerte, sich taufen zu lassen. Doch dann erinnerte sie sich an das, was Petrus und die anderen Apostel aus dem Neuen Testament am Pfingsttag gesagt hatten: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Die Worte hallten ihr im Kopf wider, und sie wusste, was sie zu tun hatte. An einem schönen Tag im Mai 1951 watete sie in eine warme Quelle in den Cevennen und ließ sich dort von Léon Fargier taufen. Sie hätte gern ihre Eltern dabei gehabt, aber deren Feindseligkeit gegenüber dem wiederhergestellten Evangelium war zu stark, und deshalb beschloss sie, die Taufe geheim zu halten.42
Ihre Familie fand es jedoch bald heraus und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Für Jeanne war diese Ablehnung schwer zu ertragen. Sie war jung – erst fünfundzwanzig – und fragte sich, ob es nicht besser wäre, in die Vereinigten Staaten zu ziehen und sich dort den Heiligen anzuschließen.43 Doch die Fargiers flehten sie an, zu bleiben. Es gab in ganz Frankreich, Belgien und der französischsprachigen Schweiz nur insgesamt neunhundert Mitglieder, und die Fargiers benötigten Jeannes Hilfe, um in Valence die Kirche aufzubauen.44
Nahezu eintausendfünfhundert Kilometer entfernt öffnete Terezie Vojkůvková in Brünn in der Tschechoslowakei ein Paket von ihrer Freundin Martha Toronto, die sicher in den Vereinigten Staaten angekommen war. Darin fand Terezie Kleidung für ihre Familie, wofür sie ungemein dankbar war. Ihre Familie kam kaum über die Runden, seit ihr Mann Otakar Vojkůvka zwei Jahre zuvor seine Buchbinderei verloren hatte. Kommunistische Beamte hatten das Unternehmen beschlagnahmt und Otakar, der ein erfolgreicher Geschäftsmann und Präsident des Zweiges in Brünn war, verhaftet. Nachdem er sechs Monate in einem Arbeitslager verbracht hatte, verdiente er nun als Fabrikarbeiter einen kümmerlichen Lohn.
Terezie schrieb Martha und dankte ihr für das Paket. „Die Miete ist hoch, und die Instandhaltung unserer Wohnung kostet uns viel“, erklärte sie ihrer Freundin. „Krankheit hat einen Teil unseres Einkommens verschlungen, und so ist nur wenig da, um Kleidung für die Kinder zu kaufen.“45
Im selben Brief schilderte Terezie die neuen Einschränkungen, die sie und weitere tschechoslowakische Heilige unter den Kommunisten zu erdulden hatten. Wenige Wochen nachdem Martha das Land verlassen hatte, war auch ihr Mann Wallace gezwungen gewesen, ihr zu folgen. Bald darauf ordnete die kommunistische Regierung an, dass der amtierende Missionspräsident, ein tschechoslowakisches Mitglied namens Rudolf Kubiska, die Mission auflösen müsse. Den Heiligen im ganzen Land wurde zudem verboten, weiterhin öffentliche Versammlungen abzuhalten.
Da sie nicht wussten, wie sie auf das Vorgehen der Regierung reagieren sollten, fragten sich einige Mitglieder, ob sie nicht zulassen sollten, dass die Regierung eine eigene kirchliche Führung ernenne, damit sie wenigstens weiterhin Versammlungen abhalten könnten, wie das auch bei anderen Konfessionen der Fall war. Die Missionspräsidentschaft war jedoch der Ansicht, dass eine solche Vereinbarung nicht in Frage käme.
Terezie fehlten die wöchentlichen Versammlungen. „Die Sonntage sind lang und leer, wenn wir unsere Gefühle und unser Zeugnis nicht weitergeben können“, schrieb sie an Martha.
Dennoch fühlte sie sich nicht im Stich gelassen. Als Mitglied der Kommunistischen Partei verfügte Präsident Kubiska über politische Verbindungen, die die tschechoslowakischen Heiligen vor den extremen Schikanen und Verfolgungen bewahrten, denen andere religiöse Gruppierungen ausgesetzt waren. Anhand der letzten Anweisungen von Präsident Toronto hatten er und seine Ratgeber im Stillen auch einen einfachen Plan zur Fortsetzung der Gottesdienste umgesetzt.46
Sie erklärten den Heiligen, wie sie den Gottesdienst zuhause abhalten sollten. Jeder Einzelne und jede Familie sollte beten, in den heiligen Schriften lesen, den Zehnten und die Opfergaben beiseitelegen und das Evangelium aus dem Material der Kirche lernen, das ihnen zur Verfügung stand, einschließlich der letzten Ausgaben der Zeitschrift Improvement Era, die die Torontos sorgsam zensiert hatten, sodass darin nichts Negatives über den Kommunismus zu lesen war. Einmal im Monat konnten sich kleine Gruppen von Heiligen bei jemandem zuhause treffen und vom Abendmahl nehmen. Wenn es möglich war, sollten Priestertumsversammlungen nur privat abgehalten werden, und die Zweig- und Missionsleiter wollten versuchen, die Heiligen zu besuchen.
Vorsichtshalber schrieb die Missionspräsidentschaft diese Anweisungen nicht auf, sondern verbreitete sie nur mündlich. Das Versammlungsverbot führte vielen tschechoslowakischen Heiligen vor Augen, wie wertvoll die Mitgliedschaft in der Kirche doch war. Sie wuchsen geistig, und einige nahmen sogar das Risiko auf sich und sprachen trotz allem mit ihren Bekannten über das Evangelium. Einige Menschen ließen sich sogar inmitten dieser Unterdrückung taufen.47
Mit Hilfe der Heiligen in den Vereinigten Staaten sorgte Terezie dafür, dass die Tempelarbeit für ihre Eltern erledigt wurde. Sie wünschte sich, dass sie und ihre Familie selbst zum Tempel gehen und sich dort siegeln lassen könnten. „Die Mitglieder der Kirche in Zion, so wage ich zu behaupten, wissen es gar nicht zu schätzen, was für ein Segen es ist, so nahe bei einem Tempel des Herrn zu wohnen“, schrieb sie an Martha.
„Wird es unter den Menschen auf Erden jemals den ersehnten Frieden geben?“, fragte sie in ihrem Brief weiter. „Wenn wir – wir alle – doch nur Nächstenliebe füreinander hätten, und wenn Krieg und Hass doch endlich aufhören würden!“48