Kapitel 23
Nur eines ist nötig
Am 6. Februar 1935 warteten die fünfzehnjährige Connie Taylor und weitere Mitglieder des Zweiges Cincinnati im Gemeindehaus darauf, von James H. Wallis einen Patriarchalischen Segen zu erhalten.
In den letzten hundert Jahren war der Patriarchalische Segen fast immer den erwachsenen Mitgliedern vorbehalten gewesen, die dafür aber im Laufe ihres Lebens häufig von mehr als einem Patriarchen einen Segen erhielten. Doch seit einigen Jahren forderten die Führer der Kirche auch junge Leute wie Connie dazu auf, diesen Segen zu empfangen, weil er ihren Glauben stärken und ihnen als Richtschnur dienen konnte. Die Führer der Kirche stellten auch klar, dass jedes Mitglied nur einen einzigen Patriarchalischen Segen erhalten solle.1
Bruder Wallis war ein Bekehrter aus Großbritannien. Er war von der Ersten Präsidentschaft berufen worden, den Heiligen in den entlegeneren Zweigen der Kirche den Patriarchalischen Segen zu spenden. Erst unlängst hatte er eine zweijährige Mission in Europa abgeschlossen, wo er mehr als vierzehnhundert Segen erteilt hatte, und nun lautete sein Auftrag, den Heiligen im Osten der Vereinigten Staaten und in Kanada diesen Segen zu spenden. Da es für die Mitglieder in Cincinnati ja so selten die Gelegenheit gab, den Patriarchalischen Segen zu empfangen, wendete er viele Stunden dafür auf, jedem in Frage kommenden Mitglied des Zweiges diesen Segen zu geben.2
Als Connie an die Reihe kam, nahm sie im FHV-Raum Platz. Dann legte ihr Bruder Wallis die Hände auf und nannte sie bei ihrem vollen Namen: Cornelia Belle Taylor. Im Segen versicherte er ihr, dass der Herr sie kenne und über sie wache. Er verhieß ihr, sie werde geführt werden, wenn sie den Herrn im Gebet suche, das Böse meide und das Wort der Weisheit halte. Er forderte sie auf, sich mehr für die Aktivitäten in der Kirche zu interessieren und ihre Talente und ihre Intelligenz einzusetzen, um im Gottesreich eine bereitwillige Mitarbeiterin zu werden. Und er verhieß ihr, eines Tages werde sie in den Tempel gehen und an ihre Eltern gesiegelt werden.
„Zweifle nicht an dieser Verheißung“, drängte sie der Patriarch. „Zur vom Herrn bestimmten Zeit wird sein Heiliger Geist das Herz deines Vaters berühren, und durch diesen Einfluss wird er das Licht der Wahrheit sehen und an deinen Segnungen teilhaben.“3
So tröstlich diese Worte auch waren – sie erforderten immens viel Glauben, denn Connies Vater, ein Zigarrenmacher namens George Taylor, war zwar ein liebevoller, gutherziger Mann, aber seine Familie hasste die Heiligen der Letzten Tage. Als Connies Mutter Adeline zum ersten Mal ihr Interesse an der Kirche bekundet hatte, hatte er sich geweigert, sie beitreten zu lassen.
Doch als Connie etwa sechs Jahre alt war, wurde ihr Vater eines Tages beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren. Als er mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag, drängte ihn Adeline abermals, sie doch der Kirche beitreten zu lassen, und diesmal erteilte er ihr seine Erlaubnis. Sein Herz wurde immer weicher, und vor kurzem hatte er Connie und ihren Brüdern erlaubt, sich taufen zu lassen. Doch er selbst zeigte keinerlei Interesse daran, sich der Kirche anzuschließen oder seine Familie zu den Versammlungen zu begleiten.4
Bald nachdem Connie ihren Patriarchalischen Segen erhalten hatte, begann sie, sich regelmäßig an den missionarischen Bemühungen des Zweiges zu beteiligen.5 Um die während der Weltwirtschaftskrise rückläufige Zahl an Missionaren auszugleichen, wurden Heilige in aller Welt häufig zu einem Teilzeitdienst in der Nähe ihres Wohnortes berufen. 1932 organisierte Charles Anderson, der Präsident des Zweiges Cincinnati, eine Gruppe für die Missionsarbeit, damit das Werk in der Stadt weiter vorangehen konnte.6 Da die Sonntagsschule vormittags und die Abendmahlsversammlung nachmittags stattfand, verbrachten Connie und weitere Jugendliche für gewöhnlich nachmittags etwa eine Stunde damit, an Türen zu klopfen und mit den Leuten über das wiederhergestellte Evangelium zu sprechen.7
Conny arbeitete dabei des Öfteren mit Judy Bang zusammen. In letzter Zeit war Judy schon mehrfach mit Connies älterem Bruder Milton ausgegangen. Abgesehen von der Mitgliedschaft in der Kirche hatten Milton und Judy zwar nicht viel gemeinsam, aber sie verbrachten gern Zeit miteinander. Connie selbst hatte erst kurz zuvor ihre erste Verabredung gehabt – mit Judys älterem Bruder Henry. Doch sie mochte Henry bei weitem nicht so sehr wie dessen gutaussehenden jüngeren Bruder Paul, der in ihrem Alter war.8
Im März erzählte Judy ihr, Paul wolle sie – Conny – zu einer Rollschuhparty der GFV einladen. Connie hoffte den ganzen Abend, dass Paul sie fragen werde, doch er tat es nicht. Am nächsten Tag bat Henry ein paar Stunden vor der Party Milton, Connie zu fragen, ob sie denn nicht mit Paul zur Rollschuhparty gehen wolle. Das war nun nicht gerade die erhoffte direkte Anfrage, aber Connie erklärte sich doch bereit, mit ihm auszugehen.
Connie und Paul machte das gemeinsame Rollschuhlaufen ungemein Spaß. Danach stiegen einige der Jugendlichen noch in Henrys Auto und fuhren zu einem nahegelegenen Restaurant, wo sie „Chili auf Cincinnati-Art“ bestellten. „Ich habe mich sehr gut mit Paul verstanden“, schrieb Connie am Abend in ihr Tagebuch. „Besser als erwartet.“9
Ein paar Wochen später erhielt Connie dann die schriftliche Ausfertigung ihres Patriarchalischen Segens, der ihr nochmals ihre Verheißungen in Erinnerung rief. „Dieser Segen, liebe Schwester, wird deine Schritte lenken“, stand dort. „Er wird dir den Weg weisen, den du gehen sollst, damit du nicht im Dunkeln stolperst, sondern in der Lage bist, deine Augen auf das ewige Leben zu richten.“10
Da es in ihrem Leben gerade so viele Umbrüche gab, brauchte Connie die Führung des Herrn in der Tat. Bei ihrer Taufe hatte sie sich vorgenommen, stets das Rechte zu tun. Das Evangelium betrachtete sie als Schutzschild. Wenn sie sich an Gott wandte und ihn um Hilfe bat, würde er sie segnen und sie ihr Leben lang beschützen.11
In Salt Lake City saß derweil Pfahlpräsident Harold B. Lee im Büro der Ersten Präsidentschaft. Er selbst hielt sich eher für einen unerfahrenen Farmerjungen aus einer Kleinstadt in Idaho. Und dennoch saß er nun Heber J. Grant gegenüber, und der Prophet wollte von ihm wissen, wie man für die Armen sorgen könne.
„Ich möchte vom Pfahl Pioneer lernen“, meinte Präsident Grant.12
Er und seine Ratgeber J. Reuben Clark und David O. McKay hatten Harolds Vorgehensweise in jedem Detail mitverfolgt.13 Seit den Anfängen des ehrgeizigen Hilfsprogrammes im Pfahl Pioneer waren nun nahezu drei Jahre vergangen. Der Pfahl hatte in dieser Zeit zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen. Die Heiligen hatten Erbsen gepflückt, Kleidung genäht und geflickt, Obst und Gemüse eingemacht und für den Pfahl eine neue Turnhalle errichtet.14 Dreh- und Angelpunkt all dieser Tätigkeiten war das Vorratshaus des Pfahles, dessen vielseitige Unternehmungen von Jesse Drury beaufsichtigt wurden.15
Zu der Zeit war die Erste Präsidentschaft zutiefst besorgt wegen der großen Zahl an Mitgliedern, die auf öffentliche Mittel angewiesen waren. Sie waren nicht dagegen, dass die Heiligen staatliche Hilfe in Anspruch nahmen, wenn sie kein Geld für Lebensmittel oder Miete hatten. Und sie waren auch nicht dagegen, dass Mitglieder der Kirche durch öffentliche Bauprojekte der Regierung Unterstützung erhielten.16 Aber da Utah einer der Bundesstaaten war, die am meisten von staatlicher Hilfe abhängig waren, machte sich die Erste Präsidentschaft Sorgen, ob nicht vielleicht einige Mitglieder Geld annahmen, die es in Wirklichkeit gar nicht benötigten.17 Und sie fragten sich auch, wie lange die Regierung ihre Hilfsprogramme noch werde finanzieren können.18
Präsident Clark drängte Präsident Grant, den Heiligen doch eine Alternative zur Unterstützung durch den Staat zu bieten. Da er die Ansicht vertrat, dass einige Regierungsprogramme zu Müßiggang und Verzagtheit führten, rief er die Mitglieder der Kirche dazu auf, selbst die Verantwortung für das wechselseitige Wohlergehen zu übernehmen, wie das ja auch in Lehre und Bündnisse zum Ausdruck kam, und als Gegenleistung für finanzielle Zuwendungen möglichst auch zu arbeiten.19
Präsident Grant gaben noch weitere Sorgen zu denken. Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise hatte er einen Brief nach dem anderen von treuen, fleißigen Heiligen der Letzten Tage erhalten, die ihre Arbeit und ihre Farm verloren hatten. Oft war er persönlich jedoch nicht in der Lage, etwas für sie zu tun. Er war ja selbst in Armut aufgewachsen und wusste daher, was Entbehrung bedeutete. Außerdem war er jahrzehntelang tief verschuldet gewesen und empfand daher Mitgefühl mit denen, die sich in einer ähnlichen Lage befanden. Nunmehr half er mit seinem eigenen Geld sowohl Witwen und Angehörigen als auch völlig Fremden, ihre Hypothek abzuzahlen, auf Mission zu bleiben oder anderen Verpflichtungen finanzieller Art nachzukommen.20
Ihm war jedoch bewusst, dass weder seine eigenen Bemühungen noch die gutgemeinten Regierungsprogramme in diesem Fall ausreichten. Seiner Ansicht nach oblag es der Kirche, sich um die Armen und Arbeitslosen zu kümmern, und er wollte, dass Harold aufgrund seiner Erfahrung mit dem Pfahl Pioneer ein neues Programm auf die Beine stelle, das die Heiligen in die Lage versetzte, ihre Anstrengungen zu bündeln und die Notleidenden zu unterstützen.
„Es gibt für die Kirche nichts Wichtigeres, als sich um ihre bedürftigen Mitglieder zu kümmern“, stellte Präsident Grant fest.21
Harold verschlug es den Atem. Der Gedanke, ein kirchenweites Programm auf die Beine zu stellen, war mehr, als er sich vorstellen konnte. Nach dem Treffen fuhr er mit dem Auto zu einem nahegelegenen Park in einem Canyon oberhalb von Salt Lake City, und seine Gedanken überschlugen sich.
„Wie soll ich das nur schaffen?“, fragte er sich.
Am Eingang zum Park endete die Straße. Er stellte den Motor ab und spazierte durch den Wald, bis er an eine abgelegene Lichtung kam. Dort kniete er sich hin und betete um Führung. „Um des Schutzes deines Volkes willen und zum Segen der Mitglieder“, betete er, „brauche ich deine Führung.“22
Und in der Stille verspürte er machtvoll diese Eingebung: „Es bedarf keiner neuen Organisation, um sich der Bedürfnisse des Volkes anzunehmen,“ erkannte Harold. „Nur eines ist nötig: das Priestertum Gottes einzusetzen.“23
In den folgenden Tagen beriet sich Harold mit vielen erfahrenen, gebildeten Menschen, auch mit dem Apostel und ehemaligen Senator Reed Smoot. Anschließend verbrachte er Wochen mit der Ausarbeitung eines Entwurfs, der detaillierte Berichte und Diagramme seiner Vision für ein mögliches Hilfsprogramm der Kirche enthielt.24
Präsident McKay hielt den Entwurf für durchführbar, als Harold ihn der Ersten Präsidentschaft vorstellte, doch Präsident Grant zögerte noch, da er sich nicht sicher war, ob die Heiligen bereit seien, ein Programm dieser Größenordnung umzusetzen. Im Anschluss an die Besprechung bat er den Herrn im Gebet um Führung, erhielt jedoch keinerlei Weisung.
„Ich mache erst weiter“, sagte er zu seinem Sekretär, „wenn ich mir sicher bin, was der Herr will.“25
Während Präsident Grant wegen des Hilfsprogramms also auf Weisung vom Herrn wartete, reiste er nach Hawaii, wo er auf der Insel Oahu einen Pfahl gründen wollte.26 Fünfzehn Jahre war es bereits her, dass er den Tempel dort geweiht hatte, und vieles hatte sich inzwischen verändert. Auf dem Tempelgrundstück, das einst kahl und nur mit einigen wenigen Sträuchern bewachsen gewesen war, stand nun die Bougainvillea in voller Blüte, und kaskadenförmige Wasserbecken waren umrahmt von sich sacht im Winde wiegenden Palmen.27
Die Kirche auf Hawaii war gleichfalls aufgeblüht. In den fünfundachtzig Jahren seit die ersten Missionare der Heiligen der Letzten Tage in Honolulu angelegt hatten, war die Mitgliederzahl auf den Inseln auf mehr als dreizehntausend Heilige angewachsen, von denen die Hälfte auf Oahu lebte. Die Versammlungen waren so gut besucht wie nie zuvor, und die Heiligen freuten sich schon sehr auf die Pfahlgründung. Der Pfahl Oahu sollte der 113. Pfahl der Kirche werden und der erste außerhalb Nordamerikas. Erstmals sollten die Heiligen auf Hawaii nun Bischöfe, Pfahl-Führungsbeamte und einen Patriarchen bekommen.28
Nach Gesprächen mit den Heiligen wurde Ralph Woolley, der für den Bau des Hawaii-Tempels zuständig gewesen war, von Heber zum Pfahlpräsidenten berufen.29 Arthur Kapewaokeao Waipa Parker, gebürtiger Hawaiianer, wurde einer seiner Ratgeber.30 Männer und Frauen polynesischer und asiatischer Abstammung wurden in den Hoherat beziehungsweise die Pfahl-FHV-Leitung und weitere Führungspositionen berufen.31
Die Vielfalt unter den Mitgliedern auf Hawaii machte auf den Propheten großen Eindruck.32 Die anfänglichen missionarischen Bemühungen hatten sich auf die Einheimischen konzentriert, doch nun erweiterte sich das Netz des Evangeliums. In den 1930er Jahren machten Menschen japanischer Abstammung mehr als ein Drittel der Bevölkerung Hawaiis aus. Viele andere Menschen in Hawaii hatten samoanische, maorische, philippinische oder chinesische Vorfahren.33
Der neue Pfahl wurde am 30. Juni 1935 vom Propheten gegründet. Einige Tage später nahm er an einem Abendessen mit japanischen Mitgliedern teil. Die kleine Gruppe hatte sich bisher allwöchentlich zu einem japanischsprachigen Sonntagsschulunterricht getroffen.34 Zum Abendessen gab es eine musikalische Untermalung auf traditionellen japanischen Instrumenten. Heber hörte zudem auch das Zeugnis von Tomizo Katsunuma, der sich als Student an der Landwirtschaftshochschule in Utah der Kirche angeschlossen hatte, und von Tsune Nachie, einer neunundsiebzigjährigen Heiligen, die in Japan getauft worden und in den Zwanzigerjahren nach Hawaii ausgewandert war, damit sie im Tempel arbeiten konnte.35
Das Essen, die Musik und die Zeugnisse versetzten Heber in Gedanken drei Jahrzehnte zurück in jene Zeit, da er der erste Präsident der Japanischen Mission gewesen war. Von seinem Wirken in Japan war er im Grunde genommen stets enttäuscht gewesen, denn trotz aller Anstrengungen war es ihm nie gelungen, die Sprache zu erlernen, und die Mission hatte kaum Bekehrte. Auch spätere Missionspräsidenten hatten sich dort schwergetan, und nachdem Heber Präsident der Kirche geworden war, schloss er die Mission sogar für einige Jahre, wobei er sich immer noch fragte, was er hätte anders machen können.36
„Bis an mein Lebensende“, merkte er einmal an, „werde ich wohl das Gefühl haben, ich hätte nicht das getan, was der Herr von mir erwartet hatte und wozu ich gesandt war.“37
Als Heber jedoch mit den japanischen Mitgliedern zusammenkam und mehr über ihre Sonntagsschule erfuhr, spürte er, dass Hawaii für eine neuerliche Mission in Japan eigentlich eine Schlüsselrolle übernehmen könnte. In Honolulu konfirmierte Heber auch zwei frisch getaufte japanische Mitglieder. Kichitaro Ikegami war einer der beiden. Vor seiner Taufe hatte er zwei Jahre lang in der Sonntagsschule unterrichtet. Der beeindruckende junge Mann war ein liebevoller Vater und auf Oahu auch ein einflussreicher Geschäftsmann.38
Heber wurde klar, dass er insgesamt jetzt mehr japanische Heilige auf Hawaii konfirmiert hatte als während seiner gesamten Mission in Japan.39 Vielleicht könnten diese Heiligen ja zu gegebener Zeit auf Mission nach Japan berufen werden und dazu beitragen, dass die Kirche in diesem Land Wurzeln schlägt.40
Der Alltag von Helga Meiszus geriet zunehmend aus den Fugen. Anfang 1935 hatte Adolf Hitler verkündet, dass Deutschland seine Militärmacht vergrößern werde, was ein Verstoß gegen den Friedensvertrag war, den Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs unterzeichnet hatte. Die europäischen Länder taten jedoch nur wenig, um Hitler in seinen Machtgelüsten einzuschränken. Mit Hilfe seines Reichsministers für Propaganda beugte Hitler Deutschland seinem Willen. Riesige Kundgebungen, die die Stärke der Nationalsozialisten demonstrierten, zogen hunderttausende Schaulustige an. Radiosendungen, die sich für Hitler aussprachen, volkstümliche Musik und das Hakenkreuz waren allgegenwärtig.41
Auch in der Kirche kam es zu Veränderungen. Die Bienenkorbmädchen trafen sich zwar weiterhin, doch das Pfadfinderprogramm der Kirche war von der Regierung aufgelöst worden, wollte man doch mehr junge Männer in den Reihen der Hitlerjugend sehen. Der Judenhass der Nationalsozialisten führte dazu, dass den Kirchen Begriffe verboten wurden, die mit dem Judentum in Verbindung gebracht werden konnten. Die Glaubensartikel waren demnach verboten, da sie Wörter wie „Israel“ und „Zion“ enthielten. Auch sonstige kirchliche Schriften – etwa eine Broschüre mit dem Titel Vollmacht von Gott – fielen der Zensur anheim, da sie den Anschein erweckten, sie würden sich der Macht der Nationalsozialisten entgegenstellen.42
Die Führer der Kirche in Deutschland hatten sich einigen dieser Angriffe widersetzt, doch letztlich riefen sie die Heiligen dazu auf, sich der neuen Regierung anzupassen und nichts zu sagen oder zu tun, was die Kirche oder deren Mitglieder in Gefahr bringen könnte.43 Da die Gestapo offenbar allgegenwärtig war, war den Heiligen in Tilsit klar, dass kein Anzeichen von Widerstand oder Auflehnung unbemerkt bleiben könne. Die meisten deutschen Heiligen hielten sich aus der Politik heraus, jedoch bestand immer die Befürchtung, dass jemand aus dem Zweig vielleicht doch mit den Nazis in Verbindung stand.
Viele Mitglieder des Zweiges vertraten die Ansicht, am sichersten sei es, konform zu gehen und sich als loyaler, gehorsamer Deutscher zu geben. Ein einziges ungefügiges Mitglied konnte ja schließlich alle im Zweig den Vergeltungsmaßnahmen der Nazis aussetzen.44
Helga fand Trost und Zuflucht in der Freundschaft mit anderen Jugendlichen der Kirche, etwa auch bei ihrem Bruder Siegfried und ihrem Cousin Kurt Brahtz. Häufig gab es im Zweig Programme mit Theaterstücken und Musik oder fröhliche Feiern mit Kartoffelsalat, Würstchen und Streuselkuchen.45 In der Regel verbrachten die Jugendlichen den ganzen Sonntag zusammen. Nach der vormittäglichen Sonntagsschule waren sie bei einem Mitglied – etwa bei Helgas Tante oder ihrer Großmutter. Falls es dort ein Klavier gab, setzte sich jemand hin und spielte, und alle anderen sangen dazu aus dem deutschen Gesangbuch der Kirche.
Nach der Abendmahlsversammlung gingen sie dann zu Heinz Schulzke, dem jugendlichen Sohn des Zweigpräsidenten Otto Schulzke, wo sie redeten, lachten und sich ihrer Gemeinschaft erfreuten. Präsident Schulzke war für Helga und die anderen Jugendlichen eine Art zweiter Vater geworden. Er stellte hohe Erwartungen an sie und ermahnte sie oft, umzukehren und die Gebote zu halten. Er erzählte ihnen jedoch auch viele Geschichten und hatte einen ironischen Humor. Wenn jemand zu spät zur Versammlung kam und sich alle nach ihm umdrehten, meinte er: „Falls ein Löwe an der Tür steht, sage ich es euch schon. Ihr müsst euch also nicht umdrehen!“46
Auch Helgas Großmutter war für sie so ein Fels in der Brandung. Johanne Wachsmuth konnte so streng sein wie Otto Schulzke und verwöhnte ihre Enkelkinder keineswegs. Sie war eine tiefreligiöse Frau, die oftmals Zwiesprache mit ihrem Vater im Himmel hielt. Wann immer Helga im Haus ihrer Großeltern übernachtete, erwartete Johanne, dass sie alle gemeinsam zum Beten niederknieten.
Eines Abends war Helga böse auf ihre Großmutter und wollte absolut nicht beten. Doch Johanne bestand darauf.
Helga gab schließlich nach, und als sie so auf dem harten Bretterboden kniete, schmolz ihr Ärger dahin. Ihre Großmutter war wie eine Freundin für sie und hatte ihr beigebracht, mit Gott zu sprechen. Im Nachhinein war ihr Helga dankbar dafür. Es war ein gutes Gefühl, die Wut wieder aus dem Herzen verbannt zu haben.47
Zehn Monate nach dem anfänglichen Treffen mit der Ersten Präsidentschaft fand sich Harold B. Lee im Februar 1936 erneut in deren Büro ein. Präsident Grant war nun bereit, für bedürftige Heilige einen Hilfsplan aufzustellen. Eine kürzlich von der Präsidierenden Bischofschaft durchgeführte Umfrage in den Gemeinden und Pfählen hatte ergeben, dass fast jeder fünfte Heilige in irgendeiner Form finanzielle Unterstützung erhielt. Nur wenige wandten sich jedoch an die Kirche, unter anderem auch deshalb, weil die Regierung der Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren die Zuwendungen an die Bundesstaaten deutlich erhöht hatte. Die Präsidierende Bischofschaft war jedoch der Ansicht, die Kirche könne sämtliche bedürftige Mitglieder unterstützen, sofern jeder Heilige der Letzten Tage seinen Teil zur Sorge für die Armen beitrage.48
Präsident Grant und seine Ratgeber legten Harold nahe, seinen früheren Vorschlag zu überarbeiten. Sie stellten ihm dazu Campbell Brown Jr. zur Seite, den Leiter des Wohlfahrtsprogramms einer Kupfermine vor Ort.49
In den nächsten Wochen arbeitete Harold Tag und Nacht, analysierte Statistiken, beriet sich mit Campbell und überdachte den bisherigen Plan. Am 18. März legten sie den überarbeiteten Vorschlag Präsident McKay vor und gingen mit ihm alle Details durch.50 Dem neuen Plan zufolge sollten die Pfähle der Kirche in geografische Regionen eingeteilt werden, und jede Region bekäme dann ein eigenes zentrales Vorratshaus, in dem Lebensmittel und Kleidungsstücke gelagert werden sollten. Diese Vorräte sollten aus Fastopferspenden oder Zehntengeldern angeschafft oder durch Arbeitsprojekte erwirtschaftet werden oder auch durch Zehnten-Sachspenden eingehen. War in einer Region etwa ein Überschuss an bestimmten Artikeln vorhanden, konnten diese gegen andere eingetauscht werden.
Regionale Räte der Pfahlpräsidenten vor Ort sollten zwar für das Programm zuständig sein, doch die eigentliche Ausführung läge bei den Bischofschaften, den FHV-Leitungen sowie den neu ins Leben gerufenen Beschäftigungsausschüssen auf Gemeindeebene. Die Mitglieder des Beschäftigungsausschusses sollten ein wöchentlich zu aktualisierendes Verzeichnis über den Beschäftigungsstatus aller Gemeindemitglieder führen. Sie sollten zudem Arbeitsprojekte organisieren und den Mitgliedern durch weitere Hilfsmaßnahmen unterstützend zur Seite stehen.51
Der Plan sah vor, dass die Heiligen im Austausch für ihre Arbeitskraft Hilfe erhalten sollten, so wie dies schon beim Pfahl Pioneer der Fall gewesen war. Die Teilnehmer an den Arbeitsprojekten besprachen mit ihrem Bischof den Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung, Brennmaterial oder anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Dann besuchte eine Vertreterin der Frauenhilfsvereinigung die Familie, beurteilte deren Lebensumstände und füllte einen Bestellschein aus, der im Vorratshaus des Pfahles eingelöst werden konnte. Zwei Personen, die pro Tag gleich viel arbeiteten, konnten demnach je nach ihren Lebensumständen – also Familiengröße oder anderen Faktoren – unterschiedlich viele Lebensmittel oder sonstige Bedarfsgüter erhalten.52
Harold und Campbell beendeten ihre Erläuterungen und konnten sehen, dass Präsident McKay zufrieden war.
„Brüder, dieses Programm können wir wahrhaftig der Kirche vorstellen“, rief er aus und schlug dabei mit der Hand auf den Tisch. „Der Herr hat euch bei eurer Arbeit inspiriert.“53