„Ein neues Zeitalter“, Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2022
Kapitel 39: Ein neues Zeitalter
Kapitel 39
Ein neues Zeitalter
Am Dienstag, dem 6. September 1955, stieg Helga Meyer in einen Zug nach West-Berlin. Sie und andere Mitglieder des Zweiges Neubrandenburg hatten kürzlich erfahren, dass der Tabernakelchor zu einem Konzert in die Stadt kommen sollte. Der Chor war seit Mitte August auf Europatournee und trat vor der Weihung des Schweizer Tempels in mehreren Städten auf, darunter auch in Glasgow und Kopenhagen. Es war das bedeutendste Projekt des Chores seit seinem Auftritt bei der Weltausstellung in Chicago sechs Jahrzehnte zuvor. Für viele Konzertbesucher war es ein einmaliges Erlebnis, den Chor singen zu hören.1
Lange Zeit schien es unpraktisch, die mehr als dreihundertfünfzig Chormitglieder über den Ozean zu bringen, aber Präsident David O. McKay war der Meinung, dass es für den Chor an der Zeit sei, sich über Nordamerika hinauszuwagen. „Es gibt in der Missionsarbeit keine treibendere Kraft als den Tabernakelchor“, waren seine Worte, als er das Vorhaben ankündigte.2
In die gesamte Tournee waren viel Aufwand, Vorbereitung und Gebet geflossen, doch die Vorkehrungen für die Anwesenheit des Chors in West-Berlin waren besonders umfangreich. Zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion hatten auf höchster Ebene Verhandlungen stattgefunden, um einer so großen Gruppe von Amerikanern die Reise durch die Deutsche Demokratische Republik in den Westteil der Stadt zu ermöglichen.3
Als Helga und andere ostdeutsche Heilige von dem bevorstehenden Besuch des Chores erfuhren, beantragten sie die Genehmigung, nach West-Berlin zu reisen, und erhielten diese auch. Während der Chor am Abend vor einem zahlenden Publikum auftrat, gab er tagsüber eine kostenlose „Generalprobe“ für die Bürger der DDR sowie ostdeutsche Flüchtlinge, die nun in Westdeutschland lebten. Die Meyers hatten nicht viel Geld, aber Kurts Fischereibetrieb und Helgas Arbeit als Kindergärtnerin brachten gerade so viel ein, dass Helga alleine nach West-Berlin reisen und eine Karte für das Abendkonzert kaufen konnte.4
Als Helgas Zug in West-Berlin ankam, machte sie sich vom Bahnhof aus auf den Weg zu der weitläufigen Schöneberger Sportarena, wo das kostenlose Nachmittagskonzert stattfinden sollte. Der Zuschauerraum war nahezu voll besetzt, doch sie konnte noch einen Platz in der Nähe der Bühne ergattern.
Helga, Kurt und ihre Kinder hatten sich viele Abende ums Radio geschart und den Sendungen des Tabernakelchors gelauscht. Da das Programm ja aus den Vereinigten Staaten kam, mussten sie die Lautstärke ganz leise drehen, damit niemand auf der Straße die Musik hörte und sie meldete. Aber heute konnte sie ohne Angst zuhören und die Liedtexte wie die Musik rundum genießen.5
Der Chor begann mit Werken der berühmten deutschen Komponisten Bach, Händel und Beethoven. Dann ging es weiter mit bekannten Liedern der Heiligen der Letzten Tage wie „O mein Vater“ und „Kommt, Heilge, kommt!“. Helga verstand den englischen Text nicht, doch als die Stimmen der Sänger den Raum mit freudigen Klängen erfüllten, ging ihr das Herz auf.
Das waren ihre Leute, spürte Helga, auch wenn sie von so weit her kamen.6
Einige Stunden später kehrte sie zum Abendkonzert in den Saal zurück. Diesmal nahmen westdeutsche Mitglieder der Kirche, amerikanische Soldaten und Regierungsbeamte die meisten Plätze im vollbesetzten Saal ein. Das Konzert wurde aufgezeichnet, damit es der Rundfunksender Radio Free Europe, der von den Vereinigten Staaten unterstützt wurde, von Westdeutschland aus zu den Bürgern der DDR, der Tschechoslowakei, Polens und anderer kommunistischer Länder in Mittel- und Osteuropa übertragen konnte.7
Wieder lauschte Helga der Musik voller Freude. Der Geist des Herrn erfüllte den Raum, und sie und ihre Sitznachbarn konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war wie der Himmel auf Erden.
Nach dem Konzert verließen die Sängerinnen und Sänger den Saal und stiegen in die wartenden Busse. Helga und eine Gruppe deutscher Heiliger folgten ihnen nach draußen und sangen hinter ihnen her „Gott sei mit euch bis aufs Wiedersehn“. Sie schwenkten ihre Taschentücher, bis der letzte Bus außer Sichtweite war.8
Ein paar Tage später, am Sonntag, dem 11. September 1955, parkte Präsident McKay auf dem bereits ziemlich überfüllten Parkplatz in Zollikofen bei Bern. In den vergangenen Jahren hatte er den Fortschritt an den beiden europäischen Tempeln aus der Ferne verfolgt. Vor kurzem hatte er den ersten Spatenstich für den Tempel in London gesetzt. Heute war er gekommen, um den soeben fertiggestellten Schweizer Tempel zu weihen.9
Es war ein herrlicher Augenblick für Präsident McKay. Europa war über Generationen hinweg eine Quelle der Stärke für die Kirche gewesen. Beide Eltern des Propheten waren in Europa zur Welt gekommen. Die Familie seines Vaters hatte sich in Schottland der Kirche angeschlossen, und die Familie seiner Mutter gehörte zu den ersten Bekehrten in Wales. Nun mussten die europäischen Heiligen nicht mehr den Ozean überqueren, um in den Genuss der Segnungen des Tempels zu kommen, wie es seine Eltern und Großeltern getan hatten.10
Seit Tagen hatte es in Bern geregnet. Doch an diesem Morgen wurde Präsident McKay von einem blauen Himmel und Sonnenschein begrüßt. Das schlichte, moderne Äußere des Tempels hob sich einladend vor den Nadelbäumen im Hintergrund ab. Das Gebäude war cremefarben und an den Seiten gab es Reihen von weißen Wandpfeilern und hohen Fenstern. Eine einzelne vergoldete Turmspitze, die von einem strahlend weißen Sockel getragen wurde, ragte hoch über die Eingangstüren aus Messing hinaus. Und in der Ferne erhoben sich, vom Tempelgelände aus deutlich sichtbar, der Jura und die majestätischen Schweizer Alpen.11
Als Präsident McKay den Tempel betrat, ging er unter den großen Blockbuchstaben über der Tür hindurch. Das Haus des Herrn war da zu lesen. Zum ersten Mal standen diese Worte auf einem Tempel der Heiligen der Letzten Tage in einer anderen Sprache als dem Englischen.12
Wenige Minuten später, um zehn Uhr, stand der Prophet am Rednerpult im Versammlungsraum im dritten Stock. Etwa sechshundert Menschen, mehr als die Hälfte davon Mitglieder des Tabernakelchors, waren dort anwesend. Weitere neunhundert Heilige saßen in anderen Räumen des Tempels und verfolgten das Geschehen über Lautsprecher.13
Nach dem Gesang des Chores und einem Gebet begrüßte Präsident McKay alle Zuhörer und wies darauf hin, dass auch frühere Präsidenten der Kirche im Geiste anwesend seien. Unter ihnen sei auch Joseph F. Smith, der ein halbes Jahrhundert zuvor in Bern prophezeit hatte, dass eines Tages in aller Welt Tempel errichtet werden würden.14
Samuel Bringhurst, der kürzlich zum Präsidenten des Schweizer Tempels berufen worden war, sprach als Nächster. Er erzählte von den Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Grundstück und bezeugte, dass der Herr sie bei der Wahl des jetzigen Standorts geführt hatte.15
Danach sprach Apostel Ezra Taft Benson. Er erzählte den Zuhörern von seiner Großmutter väterlicherseits, Louisa Ballif, deren Eltern sich in den 1850er Jahren in der Schweiz der Kirche angeschlossen hatten und dann nach Utah ausgewandert waren. Als junger Mann, der in Idaho aufwuchs, hatte Ezra seine Großmutter von der Bekehrung ihrer Familie und ihrer Liebe zur alten Heimat erzählen hören.
„Glauben Sie mir“, sagte der Apostel, „ich habe die Schweiz schon lange geliebt, bevor ich meinen Fuß in dieses Land gesetzt habe.“
Elder Benson sprach dann über seine Mission bei den Heiligen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erwähnte seinen Besuch in Wien und in Zełwągi. Und er erinnerte sich an die Freundlichkeit der Schweizer Regierungsbeamten, die die Kirche bei der Verteilung der Hilfsgüter unterstützt hatten.16
Nachdem Elder Benson wieder Platz genommen hatte, kehrte Präsident McKay zum Rednerpult zurück und weihte das Haus des Herrn. „O Gott, unser ewiger Vater“, begann er das Gebet, „zu diesem heiligen Anlass – der Fertigstellung und Weihung des ersten Tempels der Kirche in Europa – erheben wir Herz und Stimme zu dir in Lobpreis und Dankbarkeit.“ Er dankte dem Herrn für das wiederhergestellte Evangelium, für neuzeitliche Offenbarung und für das Schweizer Volk, das jahrhundertelang das Recht hochgehalten hatte, Gott zu verehren, wie es das Gewissen gebietet.
Während des Gebets schien der Prophet auch bedrückt vom Unglauben der Menschen in jenen Ländern, wo das Evangelium Jesu Christi noch nicht verkündet werden konnte. „Segne die Führer der Nationen“, bat er inniglich, „damit ihr Herz von Vorurteilen, Misstrauen und Gier frei und mit dem Wunsch nach Frieden und Rechtschaffenheit erfüllt sei.“
Präsident McKay schloss die Weihungsversammlung am Vormittag mit dem Hosanna-Ruf.17 Während der Versammlung bat er zudem Ewan Harbrecht, eine junge Sopranistin des Tabernakelchors, deren deutschstämmige Großmutter in der Anfangszeit der Kirche dem Zweig Cincinnati angehört hatte, aufzustehen und ein Lied zu singen.
Überall, wo sie in Europa auftraten, wurden Ewan und der Chor stets mit lautem Beifall belohnt. Doch im Haus des Herrn senkte sich nach dem Lied eine friedliche, dem Anlass entsprechende Andacht über die Anwesenden. „Segne dieses Haus“, sang Ewan.
Eile deinem Volk herbei,
mach es rein, von Sünde frei.
Segne uns, dass wir bestehn
und dein Reich einst können sehn.18
Am folgenden Donnerstag betrat Jeanne Charrier den Schweizer Tempel, um an der letzten der neun Weihungsversammlungen teilzunehmen. Umgeben von anderen Heiligen aus der Französischen Mission, darunter Léon und Claire Fargier, war es Jeanne eine Ehre, im Haus des Herrn zu sein und zu den Europäern zu gehören, die nun bald ewige Bündnisse schließen sollten.19
Präsident McKay ergriff das Wort, wie er es bei jeder der vorangegangenen Versammlungen getan hatte. Jeanne fühlte sich dem Propheten, den sie auf einer Konferenz in Paris während seiner Europareise 1952 kennengelernt hatte, besonders verbunden. Zu dem Zeitpunkt war sie erst seit einem Jahr Mitglied der Kirche gewesen, und der Schmerz über die Ablehnung durch ihre Eltern war noch frisch. Präsident McKay war damals stehen geblieben, um sie nach ihrer Taufe zu fragen und sich zu erkundigen, wie ihr Leben seitdem verlaufe. Anstatt ihr einfach nur die Hand zu geben, hatte er sie wie ein Großvater ganz herzlich in den Arm genommen, was ihre innere Unruhe gelindert hatte.20
Als Präsident McKay nun die Heiligen der Französischen Mission im Tempel begrüßte, wurden seine Worte von Robert Simond übersetzt, einem langjährigen Schweizer Mitglied der Kirche, der der Missionspräsidentschaft angehörte. „Diese Weihung ist ein Meilenstein in der Geschichte der Kirche“, sagte der Prophet den Heiligen. „In mehrfacher Hinsicht beginnt damit ein neues Zeitalter.“21
Dann sprach er zu denen, die bald die Vorverordnungen und das Endowment empfangen würden. Er wollte sie auf die wesentlichen Lebensgrundsätze einstimmen, die sie im Tempel bald erfahren sollten.
„Sich die Herrlichkeit des Tempelwerks vor Augen zu führen und zu vergegenwärtigen, ist gewissermaßen gleichbedeutend mit dem Erhalt eines Zeugnisses, dass das Werk Christi von Gott ist“, erklärte er. „Manchen eröffnet sich die herrliche Wahrheit des wiederhergestellten Evangeliums sofort. Bei anderen wiederum geschieht dies allmählich und doch mit Gewissheit.“22
Die ersten Endowmentsessionen im Schweizer Tempel sollten in der folgenden Woche beginnen. Nachdem Präsident McKay jedoch erfahren hatte, dass viele Heilige bis dahin schon wieder zurück in ihren Heimatländern sein mussten, fragte er Gordon B. Hinckley, ob sein Team die Nacht durcharbeiten könne, damit im Tempel schon am Freitagmorgen das Endowment empfangen werden könne.23
Am Freitagnachmittag kehrte Jeanne also mit anderen französischsprachigen Heiligen in den Tempel zurück. Die ersten beiden Endowmentsessionen waren auf Deutsch gewesen, und da das Endowment für die meisten Besucher eine neue Erfahrung war, dauerte alles länger als erwartet. Als die französische Session begann, war die Sonne bereits untergegangen, und danach folgten noch Sessionen in anderen Sprachen.24
Nachdem Jeanne und andere französische Heilige bei einer Sonderversammlung in der Kapelle des Tempels eine Ansprache von Apostel Spencer W. Kimball gehört hatten, nahmen sie an den Vorverordnungen und am Endowment teil. Gemeinsam sahen sie sich in einem Raum den neuen französischsprachigen Tempelfilm an und erfuhren mehr über die Schöpfung der Erde, den Fall Adams und Evas und das Sühnopfer Jesu Christi. Sie schlossen Bündnisse mit Gott und erhielten im Gegenzug die Verheißung großer Segnungen in diesem und im nächsten Leben.25
Als Jeannes Session endete, war es bereits mitten in der Nacht. Heilige aus Schweden, Finnland, den Niederlanden, Dänemark und Norwegen erhielten ihr Endowment in Sessionen, die rund um die Uhr bis spät in die Samstagnacht hin andauerten.26
Nachdem sie an den Zeremonien des Tempels teilgenommen hatte, wusste Jeanne, dass dies ein Ort des Glaubens und der Hoffnung war, der sie darauf vorbereitete, eines Tages in Gottes Gegenwart einzutreten. Und obwohl ihre irdische Familie noch nicht bereit war, die Evangeliumsbotschaft zu vernehmen, freute sie sich schon darauf, die Arbeit für ihre verstorbenen Vorfahren zu verrichten, die darauf warteten, die Segnungen des Tempels zu erhalten.
„Niemand wird vergessen“, dachte sie bei sich.27
Es war wahrlich eine anstrengende Woche für Gordon B. Hinckley gewesen. Nachdem der Film den Zoll passiert hatte, überwachte Gordon im Tempel die Installation der Projektions- und Tontechnik, synchronisierte Ton und Film in jeder Sprache, um sicherzustellen, dass alles funktionierten, und schulte den neuen Tempeltechniker Hans Lutscher, der nach seinem eigenen Endowment dann für die Vorführung des Films zuständig sein sollte.28
Gordon und seinem Team war während der fünf Tage der Weihung eine kurze Atempause von ihrem hektischen Zeitplan gegönnt gewesen, aber sobald Präsident McKay den Wunsch geäußert hatte, gleich anschließend mit den heiligen Handlungen beginnen zu können, machten sie sich umgehend wieder an die Arbeit.
Seit dem frühen Freitagmorgen hatte Gordon fast zwei Tage damit verbracht, den Projektor und die Tonanlage zu bedienen. An Schlaf war kaum zu denken. Und das feuchte Herbstklima in Bern hatte die Erkältung, die Gordon sich eingefangen hatte, noch weiter verschlimmert. Augen und Nase liefen unaufhörlich, der Kopf fühlte sich schwer an und der ganze Körper schmerzte.29
Doch als die Sessionen Stunde um Stunde weitergeführt wurden, war Gordon selbst erstaunt, wie gut das auf den Film gestützte Endowment funktionierte. Die Tempelarbeiter hatten kaum Probleme mit dem neuen Verfahren, obwohl die vielen Sprachen schon eine Herausforderung darstellten. Als Gordon die heilige Handlung verfolgte, wurde ihm klar, wie schwierig es gewesen wäre, sie auf herkömmliche Weise in sieben Sprachen durchzuführen.30
Als am Samstag spät am Abend die letzte Endowmentsession endete, war Gordon völlig erschöpft. Aber abgesehen von den roten Augen und den Halsschmerzen verspürte er doch, dass er etwas Bedeutsames erlebte. Seit er nach Bern gekommen war, hatte er gesehen, wie hunderte von Heiligen aus den europäischen Ländern den Tempel betraten. Viele von ihnen hatten große Opfer gebracht, um bei der Weihung dabei sein zu können. Einige von ihnen waren offensichtlich sehr arm. Andere hatten im Zuge der beiden Weltkriege den Verlust von Angehörigen und Freunden zu beklagen. Sie vergossen Tränen, als sie das Endowment erhielten und erlebten, wie ihre Familie für die Ewigkeit gesiegelt wurde.
Mehr denn je zuvor war sich Gordon sicher, dass der Herr Präsident McKay inspiriert hatte, den Frauen und Männern in Europa die Segnungen des Tempels zu eröffnen. Ihre Freude zu sehen, war die nächtelange Arbeit und all die hektischen Tage der letzten beiden Jahre wert.31
Wie die meisten Heiligen aus Ostdeutschland konnte Henry Burkhardt nicht zur Weihung des Tempels oder zu den ersten Endowmentsessionen nach Bern reisen. Stattdessen bereitete er ein Zimmer im Dachgeschoss seines Elternhauses vor, wo er und Inge nach der bevorstehenden Hochzeit wohnen sollten. Er hatte den Antrag auf eine eigene Wohnung gestellt, doch ob und wann die Regierung ihn bewilligen würde, wusste er nicht. Er ging davon aus, dass sie mit der kleinen, unbeheizten Kammer vorläufig auskommen müssten, von der er hoffte, dass Inge sie etwas freundlicher fände, wenn er erst neue Tapeten angebracht hatte.
Henry und Inge hatten sich in den neun Monaten seit ihrer Verlobung nur ein paar Mal gesehen – meistens dann, wenn Henry zu einer Distriktskonferenz in die Nähe von Bernburg kam. Sie wollten am 29. Oktober standesamtlich heiraten und waren entschlossen, sich danach so schnell wie möglich im Tempel siegeln zu lassen.32
Die ostdeutsche Regierung erlaubte ihren Bürgern zwar, nach Westdeutschland zu reisen, trotzdem durften Henry und Inge niemandem sagen, dass sie gemeinsam reisen wollten, da die Behörden dann davon ausgehen würden, dass sie das Land auf Dauer verlassen wollten. Sie besorgten sich also ihr Visum für Westdeutschland in verschiedenen Städten und beantragten ihr Visum für die Schweiz über das Missionsbüro in West-Berlin. Laut Plan sollte das Schweizer Visum demnach an das Büro der Westdeutschen Mission in Frankfurt geschickt werden. Sollten die Papiere dort nicht ankommen, müsste das Paar ohne Siegelung wieder in die DDR zurückkehren.33
Am Tag nach ihrer Hochzeit in Bernburg fuhren Henry und Inge ohne Zwischenfälle nach Westdeutschland, wo inzwischen auch ihr Visum für die Schweiz eingetroffen war. Sie erstanden also eine Hin- und Rückfahrkarte nach Bern und verbrachten einige Zeit bei Freunden in Westdeutschland. Überall, wo sie hinkamen, waren die Menschen höflich und freundlich zu ihnen. Sie konnten es kaum glauben, wie wunderbar es sich anfühlte, sich frei und ohne jede Einschränkung bewegen zu dürfen.34
Henry und Inge kamen am Abend des 4. November in Bern an und gaben das letzte Geld, das sie für die Reise gespart hatten, für ein kleines Zimmer in Bahnhofsnähe aus. Am nächsten Morgen schritt das Paar die Stufen zu den Tempeltüren hinauf und betrat das Haus des Herrn. Schon bald saßen sie im Endowmentraum und erhielten die heilige Handlung, während der deutschsprachige Film über eine Leinwand vor ihnen flimmerte.
Nach der heiligen Handlung betraten sie einen Siegelungsraum und knieten einander am Altar gegenüber. Sie erfuhren von den herrlichen Verheißungen, die denen gegeben werden, die den Bund der Siegelung schließen. Dann waren sie für immer miteinander verbunden.35
„Wie schön ist es doch, dass wir nun in alle Ewigkeit zueinander gehören“, dachte Henry. „Was für eine große Verantwortung uns übertragen worden ist und wie viele Segnungen doch damit einhergehen!“36
Am nächsten Abend machten sich Henry und Inge zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof, um zurück in ihr Dachgeschosszimmer in der DDR zu fahren. Ihnen war wohl bewusst, dass sie nicht zurückkehren mussten, falls sie nicht wollten. Sie hatten Freunde, die ihnen helfen konnten, in Westdeutschland zu bleiben. Sie könnten sogar versuchen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, wie so viele andere europäische Heilige auch.
Das Paar wollte seine Heimat jedoch nicht verlassen. Das Leben in der DDR war nicht immer einfach, aber ihre Angehörigen lebten dort, und Gott hatte eine Arbeit für sie.37
Bald kam der Zug, und sie stiegen ein. Als sie die Schweiz verließen, konnten weder Henry noch Inge wissen, ob und wann sie wieder in den Tempel zurückkehren würden. Doch sie vertrauten darauf, dass Gott ihre Zukunft lenken werde. Für Zeit und Ewigkeit miteinander verbunden, waren sie mehr denn je gewillt, ihm zu dienen. Und sie wussten, dass er sie nie verlassen würde.38