„Mit wirklichem Vorsatz“, Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2022
Kapitel 37: Mit wirklichem Vorsatz
Kapitel 37
Mit wirklichem Vorsatz
Im März 1953 trat die einundzwanzigjährige Inge Lehmann in Bernburg in der DDR an einem kalten Tag aus der Haustür. Sie wusste, dass ihre Eltern mit ihrem heutigen Vorhaben nicht einverstanden waren. Sich einer neuen Kirche anzuschließen, war schon schlimm genug. Doch sie beabsichtigte sogar, sich in der eiskalten Saale untertauchen zu lassen! Inge war nach ihrer Tuberkuloseerkrankung immer noch geschwächt, und ihre Eltern fürchteten um ihre Gesundheit.
Doch die junge Frau ließ sich nicht von ihrem Weg abbringen. Schon seit Jahren traf sie sich mit den Heiligen der Letzten Tage im Zweig Bernburg. Nun war es endlich an der Zeit, sich taufen zu lassen.
Aus der Dämmerung wurde langsam Nacht, als Inge auf die kleine Gruppe traf, die den Taufgottesdienst vorbereitete. Einen aus der Gruppe erkannte sie wieder: Henry Burkhardt war jener Missionar, der einige Jahre zuvor im Zweig Bernburg gedient hatte. Er beeindruckte so gut wie jeden, der ihm begegnete, doch Inge hatte ihn noch nicht näher kennengelernt.1
Seitdem Henry die neue Berufung in der Missionspräsidentschaft erhalten hatte, war er für die Stasi interessant geworden. Obwohl die ostdeutsche Regierung die Kirche offiziell anerkannt hatte, bestanden die Behörden darauf, dass Henry den Namen „Ostdeutsche Mission“ nicht mehr verwende und jegliche Missionierungstätigkeit einstelle. Henry ließ sich auf diese Forderungen ein, aber da er häufig zwischen Ost- und Westdeutschland pendelte, um mit den Führern der Kirche zu sprechen, stand er weiterhin unter genauer Beobachtung. Die Stasi verdächtigte ihn der Spionage und hatte ihn gar als „Staatsfeind“ eingestuft.2
Auch eine von Inges Freundinnen, eine junge Frau namens Erika Just, ließ sich an diesem Abend taufen. Inge und Erika waren Nachbarinnen. In den schwierigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatten mehrere Menschen aus ihrer Nachbarschaft Interesse an der Kirche gezeigt. Doch als die Menschen die von der Kirche bereitgestellten Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs mit der Zeit nicht mehr so dringend benötigten, hatten viele wieder aufgehört, zur Kirche zu kommen. Inge und Erika gehörten zu einer kleinen Gruppe junger Leute, die weiterhin kamen und einander auch durch die Aktivitäten der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung unter der Woche sowie die Abendmahlsversammlung am Sonntagabend nahestanden.
Als die Gruppe am Ufer der Saale ankam, war das letzte Sonnenlicht verschwunden. Wolken verdeckten den Mond, doch hier und da erhellte eine Eisscholle die dunkle Wasseroberfläche. Ein deutscher Missionar namens Wolfgang Süss stieg ins Wasser. Als der erste der fünf Täuflinge in den Fluss watete, tauchte der Mond hinter den Wolken auf. Sein Spiegelbild schimmerte auf der Oberfläche des Flusses, als sei es ein Zeichen von Gottes Zustimmung. Am Flussufer standen schon Leute bereit, jedes neue Mitglied in eine Decke zu hüllen.3
Bald war Inge an der Reihe und stieg in den Fluss. Als Elder Süss sie aus dem Wasser hervorholte, war sie ein neuer Mensch.
Nach den Taufen kehrte die kleine Gruppe in das Haus zurück, in dem der Zweig zusammenkam. Es war ein Hutgeschäft, das aber so umgebaut worden war, dass dort nun die Abendmahlsversammlung und die Sonntagsschule abgehalten werden konnten. Als Inge an der Reihe war, als Mitglied der Kirche bestätigt zu werden und den Heiligen Geist zu empfangen, legte ihr Henry Burkhardt die Hände auf und gab ihr einen Segen.
Henry hatte Inge in der Zeit, in der er als Missionar in ihrem Zweig war, nie besondere Beachtung geschenkt. Aber einige Tage später schrieb er etwas über sie in sein Tagebuch.
Er schrieb, dass in dieser Nacht fünf Menschen den Bund mit dem Vater im Himmel geschlossen hatten. „Ich kannte sie alle bis zu einem gewissen Grad durch meine Arbeit in Bernburg“, hielt er fest. „Besonders zuversichtlich stimmt mich Inge Lehmann.“4
Ab Herbst 1953 begann für die sechsunddreißigjährige Nan Hunter jeder Wochentag immer nach dem gleichen Schema. Morgens um sechs Uhr war sie im Gemeindehaus ihrer Gemeinde in San Diego in Kalifornien und unterrichtete dort im Seminar etwa fünfundzwanzig Jugendliche. Nach außen hin wirkte Nan gesprächig und selbstbewusst. Innerlich war sie jedoch unruhig. Sie unterrichtete nämlich einen Kurs über das Buch Mormon und war sich doch nicht einmal sicher, ob dieses Buch überhaupt wahr war.5
Nan hatte selbst Kinder im Jugendalter. Sie war daher begeistert, als erstmals das Seminar am frühen Morgen angeboten wurde. Seit Ende des Krieges entwickelte sich die Kirche im Westen der Vereinigten Staaten prächtig. Die militärische Auseinandersetzung hatte den Amerikanern eine neue Sichtweise auf den Stellenwert von Familie und Religion vermittelt, und die Heiligen in Kalifornien, von denen viele ursprünglich aus Utah stammten, wünschten sich, dass ihre Kinder alle Programme der Kirche mitmachen konnten. Im April 1950 hatten zehn Pfähle aus Südkalifornien den Bildungsausschuss der Kirche um Unterstützung bei der Einrichtung des Seminarprogramms für ihre Schüler an der Highschool ersucht. Ray Jones, ein Seminarlehrer aus Logan in Utah erklärte sich bereit, nach Los Angeles zu ziehen und das Programm dort einzuführen.
In Utah hatten Rays Schüler den Seminarunterricht tagsüber in einem Gebäude in der Nähe ihrer Schule besucht. In Kalifornien, wo es weniger Mitglieder gab, die nah beieinander lebten, war eine solche Lösung unpraktisch. Nachdem Ray Eltern und Führer der Kirche befragt hatte, stellte er fest, dass der einzige Zeitpunkt für das Seminar vor Unterrichtsbeginn war. Da die Kirche in Kalifornien nicht viele Seminarlehrer als Vollzeitkräfte einstellen konnte, mussten die meisten Klassen von Mitgliedern vor Ort unterrichtet werden.
„Das funktioniert bestimmt nie!“, sagten einige Eltern voraus, die sich sicher waren, dass ihre Kinder nicht vor Sonnenaufgang aufstehen würden, um im Gemeindehaus am Religionsunterricht teilzunehmen. Doch das Seminar am frühen Morgen wurde in Südkalifornien ein voller Erfolg. Nach nur drei Jahren waren in siebenundfünfzig Klassen über fünfzehnhundert Schüler eingeschrieben.6
So begeistert Nan über das Seminar am frühen Morgen an sich auch war, geriet sie doch aus der Fassung, als David Milne, ein Ratgeber in der Bischofschaft, sie bat, doch die Klasse zu unterrichten.
„Das kann ich ganz bestimmt nicht!“, hielt sie ihm entgegen. Sie war als Jugendliche in Utah aufgewachsen und gern zum Seminar gegangen, doch sie hatte weder eine pädagogische Ausbildung noch sonst einen Hochschulabschluss.7
David bat sie, darüber mit Ray Jones zu sprechen, der ihr empfahl, mit William Berrett zu sprechen, dem Vizepräsidenten der Bildungsabteilung der Kirche. William versicherte ihr, dass sie durchaus geeignet und auch engagiert genug sei – genau die richtige Lehrerin also für diesen Kurs über das Buch Mormon.
„Das langweilige Buch?“, fragte Nan ungläubig. „Das kann ich auf keinen Fall unterrichten. Ich habe es ja nicht einmal zu Ende gelesen, weil ich immer bei Jesaja steckenbleibe.“
William schaute ihr in die Augen. „Schwester Hunter, ich versprechen Ihnen etwas. Wenn Sie das Buch mit wirklichem Vorsatz lesen und beim Lesen darüber beten, garantiere ich Ihnen, dass Sie ein Zeugnis von diesem Buch erhalten.“ Er versicherte ihr, dass es ihr Lieblingsbuch im Seminar werden würde, und so war Nan bereit, es zu versuchen.8
Sie hielt den Unterricht im FHV-Raum ab, wo es ein Klavier und eine Tafel gab. Schon bald brachten die Jugendlichen Freunde mit, die nicht der Kirche angehörten. Sie liebte die Begeisterung und das Zeugnis ihrer Schüler, aber sie spürte die Last, nicht mit Sicherheit zu wissen, ob das Buch Mormon eine heilige Schrift ist. Wie konnte sie Wahrheiten bezeugen, bei denen sie sich selbst nicht sicher war?
Jeden Abend betete sie wegen dieses Buches, so wie William Berrett es vorgeschlagen hatte, aber es kam keine Antwort. Eines Abends kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht mehr so weitermachen könne wie bisher. Sie musste es selbst wissen. Sie übersprang alles vor 3 Nephi, las in diesem Buch und kniete danach vor dem Bett nieder. „Ist das Buch Mormon wirklich wahr, Vater?“, fragte sie. „Ist es dein Wille, dass ich die Jugendlichen unterrichte?“
Ein himmlisches Gefühl der Freude überkam sie, als würde sie jemand umarmen. „Ja, es ist wahr“, flüsterte eine leise, sanfte Stimme.
Danach war Nan ein anderer Mensch. Zu Beginn des Schuljahres hatte sie bei einem Test über das Buch Mormon mit nur 25 Prozent abgeschnitten. Am Ende des Jahres machte sie einen weiteren Test. Diesmal erreichte sie 98 Prozent. Inzwischen hatten sich auch schon sechs Jugendliche aus ihrem Kurs der Kirche angeschlossen.9
Unterdessen hatte der dreiundvierzigjährige Gordon B. Hinckley in Salt Lake City kaum je eine Verschnaufpause. Die meiste Zeit seines Berufslebens war er Angestellter der Kirche gewesen. Begonnen hatte er seine Laufbahn als Führungssekretär im Ausschuss für Rundfunk, Öffentlichkeitsarbeit und Missionsliteratur der Kirche. In den vergangenen zwei Jahren hatte er als Führungssekretär für das Missionskomitee der Kirche gearbeitet. Er war dadurch fast in alle Bestrebungen der Kirche zur Verbreitung des Evangeliums involviert – von der Schulung der Missionare bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit, und sein Arbeitstag wollte kaum ein Ende nehmen.10
Gordons Frau Marjorie erwartete gerade ihr fünftes Kind, doch wenn Gordon nach Hause kam, hatte er kaum Zeit, Frau und Kinder zu begrüßen, bevor das Telefon zu klingeln begann. Manchmal ging es in dem Anruf um einen heimwehkranken Missionar irgendwo am anderen Ende der Welt. Oder es beschwerte sich jemand über die Richtlinien der Kirche in Bezug auf Missionsberufungen und Einberufung zum Militär.11
Obwohl der Krieg zwischen Nord- und Südkorea vor kurzem durch einen Waffenstillstand ein Ende gefunden hatte, zogen die Vereinigten Staaten weiterhin junge Männer im Missionsalter zum Wehrdienst ein. Die Kirche hatte ihre an der Kriegszeit ausgerichteten Richtlinien dergestalt angepasst, dass so mancher junge Mann den Wehrdienst erst später erfüllen und zuvor auf Mission gehen konnte. Dies konnte jedoch niemand garantieren, was in manchen Fällen zu Enttäuschung und Schmerz führte. Dennoch gab es für junge Männer, die zur Armee eingezogen wurden, oft auch die Möglichkeit, das Evangelium in den Ländern zu verkünden, in denen sie stationiert waren. In Seoul in Südkorea trafen sich beispielsweise Soldaten, die der Kirche angehörten, regelmäßig mit einer kleinen Gruppe koreanischer Heiliger. Viele dieser koreanischen Heiligen waren Flüchtlinge, die nach dem Krieg durch amerikanische Soldaten vom wiederhergestellten Evangelium erfahren hatten.12
Im Oktober 1953 traf sich Präsident David O. McKay mit Gordon zu einem Gespräch über eine zusätzliche Aufgabe. „Wie Sie wissen, sind wir dabei, in der Schweiz einen Tempel zu bauen“, sagte er. „Bitte denken Sie darüber nach, wie wir die Unterweisung im Tempel in den verschiedenen europäischen Sprachen anbieten können, dabei aber möglichst wenige Tempelarbeiter einsetzen müssen.“13
Die Tempel in Europa sollten nämlich anders sein als alle übrigen Tempel. In jedem der acht in Betrieb befindlichen Tempel der Kirche führten mehrere geschulte Verordnungsarbeiter die Besucher durch eine Reihe von Räumen, die mit Wandmalereien verziert waren, auf denen die einzelnen Etappen des Erlösungsplans dargestellt waren. Verordnungsarbeiter könnte man jedoch nur wenige einsetzen, da ja die Heiligen in Europa so weit verstreut lebten. Daher zog die Erste Präsidentschaft in Erwägung, mit Hilfe moderner Technik die Zahl der Verordnungsarbeiter zu verringern und gleichzeitig den Platzbedarf beim Endowment zu reduzieren.14
„Sie haben ja viel Erfahrung mit dem Einsatz von Filmen und Material dieser Art“, sagte Präsident McKay zu Gordon. „Ich überlasse es Ihnen, da eine Lösung zu finden.“ Gordon musste sich umgehend an die Arbeit machen, denn der Tempel in der Schweiz sollte ja in weniger als zwei Jahren fertig sein.
„Sehr gerne“, entgegnete Gordon, „wir tun, was wir können.“15
Anfang des nächsten Jahres machte sich Präsident McKay mit seiner Frau Emma erneut auf eine Reise. Diesmal besuchte er die Heiligen in Europa, Südafrika und Südamerika. Seine erste große Reise zu den Missionen der Kirche, die ihn 1920/21 zusammen mit Hugh Cannon in alle Welt geführt hatte, hatte ihm die Augen für die Bedürfnisse und Sorgen der Heiligen rund um den Globus geöffnet. Als er nun neuerlich aufbrach, belastete ihn vor allem der Gedanke an die Südafrikanische Mission. Obwohl die Kirche dort seit mehr als hundert Jahren vertreten war, mangelte es ihr an Führungskräften, weil Menschen schwarzafrikanischer Abstammung ja nicht das Priestertum tragen und nicht die heiligen Handlungen des Tempels empfangen durften.
Diese Beschränkungen waren in Südafrika schon immer eine besondere Herausforderung, da die Missionare dort häufig Männer kennenlernten, die sich nicht sicher waren oder überhaupt nicht wussten, ob sie afrikanische oder auch europäische Vorfahren hatten, was dann jedenfalls die Frage aufwarf, ob sie zum Priestertum ordiniert werden durften. Schließlich ordnete die Erste Präsidentschaft an, dass alle dortigen Anwärter auf das Priestertum ihre Eignung bestätigen mussten, indem sie nachzuweisen hatten, dass ihre frühesten südafrikanischen Vorfahren nach Afrika eingewandert waren und nicht von dort stammten.16
Diesen Nachweis zu erbringen war zeitaufwendig und oft frustrierend. Einige potenzielle Zweig- oder Distriktspräsidenten waren Nachfahren von Stämmen, die bereits in Südafrika gelebt hatten, bevor es dort überhaupt verlässliche genealogische Aufzeichnungen gab. Andere gaben viel Geld für die Erforschung ihrer Ahnen aus, nur um dann bei der Suche irgendwo steckenzubleiben. Daher hatte Missionspräsident Leroy Duncan beschlossen, dass Missionare berufen werden sollten, die Gemeinden zu leiten, wo würdige Männer ihre Abstammung nicht nachweisen konnten.
„In den letzten fünf Jahren sind nur fünf Männer zum Melchisedekischen Priestertum ordiniert worden“, teilte LeRoy der Ersten Präsidentschaft mit. „Das Werk würde schneller vorangehen, wenn mehr unserer guten, treuen Brüder das Priestertum tragen dürften.“17
Präsident McKay hoffte, das Problem bei seiner Ankunft in Südafrika direkt ansprechen zu können. Aber er musste sich dabei auch die angespannte Lage wegen der Rassentrennung im Lande vor Augen halten. Südafrika wurde von seiner weißen Minderheitsbevölkerung regiert. Diese hatte vor kurzem damit begonnen, repressive Gesetze zu erlassen, die darauf abzielten, Schwarze und sogenannte Farbige (Menschen gemischter Abstammung) als Bürger zweiter Klasse zu behandeln und sie völlig von den Weißen abzuschotten.
Dieses als Apartheid bezeichnete System sah in der strikten Rassentrennung die Basis der südafrikanischen Gesellschaft. Als Präsident McKay über das Problem nachdachte, musste er auch mitberücksichtigen, dass die Kirche im Rahmen der bestehenden Gesetze zu handeln hatte. Ihm war auch klar, dass selbst eine inspirierte Änderung bei den Beschränkungen in Bezug auf Priestertum und Tempel den Unmut der weißen Mitglieder sowie anderer Weißer nach sich ziehen könnte.18
Die McKays kamen im Januar 1954 in Südafrika an und verbrachten die ersten paar Tage damit, sich überall im Land mit den Heiligen zu treffen. Präsident McKay nahm sich die Zeit, mit möglichst vielen Menschen zu sprechen, insbesondere mit denen, die eher zurückhaltend waren oder abseits standen.19 In Kapstadt begrüßte er Clara Daniels und ihre Tochter Alice, die Jahre zuvor bei der Gründung des Zweiges Love anwesend gewesen waren. William Daniels, Claras Ehemann und der Präsident des Zweiges Love, war 1936 verstorben. Seither waren Clara und Alice als zwei der wenigen Mitglieder gemischter Abstammung in Südafrika ihrem Glauben treu geblieben.20
Unterwegs betete Präsident McKay inständig darum, wie er denn die Einschränkungen in Bezug auf das Priestertum ansprechen könne. Er beobachtete die Heiligen aufmerksam und dachte über die Schwierigkeiten nach, mit denen sie konfrontiert waren. Er war sich darüber im Klaren: Wenn die Kirche von angehenden Priestertumsträgern in Südafrika weiterhin verlangte, ihre Abstammung bis auf Vorfahren außerhalb Afrikas zurückzuverfolgen, hätten die Zweige nicht genügend einheimische Führer, um das Werk fortführen zu können.21
Am Sonntag, dem 17. Januar, sprach er auf einer Versammlung der Missionare in Kapstadt über die Einschränkungen bei Priestertum und Tempel. Er gab zwar keine endgültige Erklärung über den Ursprung dieser Praxis ab, räumte aber ein, dass während der Präsidentschaft von Joseph Smith und Brigham Young mehrere Schwarze das Priestertum ausgeübt hatten. Er sprach auch darüber, wie schwer es ihm auf seiner Weltreise 1921 gefallen war, diese Beschränkungen aufrechtzuerhalten, und er erzählte, wie er Präsident Grant einmal zugunsten eines schwarzen Heiligen auf Hawaii angesprochen hatte, der das Priestertum erhalten wollte.
„Ich habe mich hingesetzt und mit dem Bruder gesprochen“, erzählte Präsident McKay den Missionaren, „und habe ihm versichert, dass er eines Tages alle Segnungen erhalten wird, auf die er ein Anrecht hat, denn der Herr ist gerecht und macht keinen Unterschied zwischen den Menschen.“
Präsident McKay wusste jedoch nicht, wann dieser Tag kommen sollte, und er bekräftigte, dass die Beschränkung bestehen bleiben werde, bis der Herr etwas anderes offenbarte. Er spürte jedoch, dass etwas geschehen müsse.
„Es gibt würdige Männer in der Südafrikanischen Mission, denen das Priestertum nur deswegen vorenthalten wird, weil sie ihre Abstammung von außerhalb dieses Landes nicht zurückverfolgen können“, erklärte er. „Ich habe den Eindruck, dass ihnen Unrecht getan wird.“ Von diesem Zeitpunkt an, so erklärte er, müssten Heilige, deren Abstammung in Frage stand, diese nicht mehr nachweisen müssen, um das Priestertum erhalten zu können.22
Vor seiner Abreise bekräftigte Präsident McKay erneut, dass der Tag kommen werde, da Menschen schwarzafrikanischer Abstammung alle Segnungen des Priestertums erhalten würden. Auch Schwarze aus anderen Ländern zeigten bereits vermehrt Interesse am wiederhergestellten Evangelium. Einige Jahre zuvor hatten sich mehrere Einwohner des westafrikanischen Landes Nigeria mit der Bitte um Informationen an den Hauptsitz der Kirche gewandt. Bald darauf sollten weitere solcher Anfragen folgen.23
Zur gleichen Zeit bemühten sich in aller Welt viele Schwarze um Gleichberechtigung und stellten im Zuge dessen auch immer häufiger die Rechtmäßigkeit der Rassentrennung in Frage. Als diese Aktionen in der Gesellschaft weithin um sich griffen, stellten auch immer mehr Menschen der Führung der Kirche ernst gemeinte Fragen zu den Beschränkungen.24
Einige Zeit später im selben Jahr tuckerte in der Deutschen Demokratischen Republik ein kleines Schiff gemächlich die Elbe hinauf. Aus dem einzigen Schornstein stieg dünner, weißer Rauch. Ein einziges Wort stand auf der Schiffswand: Einheit.
An Bord des Schiffes begrüßte Henry Burkhardt Heilige aus der ganzen DDR, die zu einer Tagung der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung zusammengekommen waren. Obwohl Henry etwa so alt war wie viele der jungen Erwachsenen in der Gruppe, hatte er als Führer der Kirche in der DDR eher den Vorsitz, als dass er die Veranstaltung einfach nur genießen konnte.25
Die Bootsfahrt durch die malerische Landschaft war nur eine von vielen Aktivitäten, die für die rund fünfhundert jungen Erwachsenen geplant waren. Seit den 1930er Jahren hatten Missionen auf der ganzen Welt GFV-Tagungen abgehalten, um den Glauben der Teilnehmer zu stärken und es den jungen Leuten zu ermöglichen, in der Kirche einen Ehepartner zu finden. In letzter Zeit hatte die ostdeutsche Polizei jedoch damit begonnen, kirchlichen Gruppen jegliche Freizeitaktivität wie etwa Ballspiele oder Wanderungen zu untersagen. Solche Einschränkungen machten es schwierig, in der DDR Mitglied der Kirche zu sein, und viele ostdeutsche Heilige waren bereits nach Westdeutschland oder in die Vereinigten Staaten geflüchtet. Henry kannte viele junge Menschen, die davon träumten, auszuwandern, aber er hoffte, dass Aktivitäten wie diese einige von ihnen dazu veranlassen würden, zu bleiben, damit die Kirche im Lande weiterhin fortbestehen konnte.26
Der Dampfer glitt weiter flussaufwärts, vorbei an baumbewachsenen Hügeln und hohen Felsen aus grauem Sandstein. In der Menge fiel Henrys Blick auf Inge Lehmann, die junge Frau, die er im Jahr zuvor in Bernburg konfirmiert hatte. Seitdem hatte er Inge ein paar Male gesehen, und zu Ostern hatten sie sich bei einer Aktivität der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung unterhalten.
Henry fühlte sich in der Gegenwart junger Frauen oft unsicher und unbehaglich. Als neunzehnjähriger Missionar hatte man von ihm erwartet, dass er sich auf seine Arbeit konzentrierte. Nun, da er sich in seine neuen Aufgaben in der Kirche eingearbeitet hatte, fragten sich einige Heilige in der Mission, wann und wen er denn wohl heiraten würde.
Als sich Henry mit Inge unterhielt, spürte er auf einmal etwas ganz anderes als die Schüchternheit früherer Tage. Ihm war klar, dass er die junge Frau wiedersehen wollte.27
In den nächsten Monaten besuchte er Inge, wann immer er es sich einrichten konnte. Er war im Missionsgebiet stets in einem alten Opel Olympia unterwegs, und da in der DDR Autos ja eher eine Seltenheit waren, bekamen es die Heiligen der Letzten Tage unweigerlich jedes Mal mit, wenn Henry irgendwo auftauchte. Henrys Aufgaben in der Mission ließen ihm jedoch nur selten Zeit, sich mit Inge zu treffen. Doch es dauerte nicht lange, bis sich daraus eine ernste Beziehung entwickelte.
Als der Winter kam, beschlossen Henry und Inge, zu heiraten. Über die Weihnachtsfeiertage luden Inges Eltern Henry und dessen Eltern zu sich nach Bernburg ein, um die Verlobung bekanntzugeben. Obwohl die Lehmanns mit der Entscheidung ihrer Tochter, sich der Kirche anzuschließen, anfangs nicht glücklich gewesen waren, hatte sich ihre Haltung allmählich gelockert. Und sogar mit Henry hatten sie sich angefreundet.28
Henry und Inge feierten also ihre Verlobung, doch die Zukunft blieb ungewiss. Henrys Dienst in der Kirche machte es mitunter schwer, einer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen, und er fragte sich, wie er eine Familie ernähren solle. Und es ging auch um die Frage der Eheschließung im Tempel – etwas, was sich Henry und Inge beide wünschten.
Da der Schweizer Tempel in weniger als einem Jahr fertiggestellt werden sollte, lag ihr Traum nicht in unerreichbarer Ferne. Doch es war gar nicht so einfach, Geld für die Reise zu sparen. Und die Vorschriften für die Ausreise aus der DDR wurden zunehmend verschärft. Henry und Inge war auch klar, dass die Regierung es ihnen wohl kaum erlauben würde, das Land gemeinsam zu verlassen.29