„Wir mussten uns von Anfang an durchkämpfen“, Kapitel 9 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 9: Wir mussten uns von Anfang an durchkämpfen
Kapitel 9
Wir mussten uns von Anfang an durchkämpfen
Als Joseph F. Smith im September 1906 aus Europa zurückkehrte, war Reed Smoots Zukunft als Senator der Vereinigten Staaten immer noch ungewiss. Auf der Generalkonferenz fünf Monate zuvor hatte Francis Lyman öffentlich den Rücktritt der Apostel John W. Taylor und Matthias Cowley bekanntgegeben. Auch Joseph Tanner wurde von seinen Führungsaufgaben entbunden.1
Die Rücktritte und der noch nicht lange zurückliegende Tod des Apostels Marriner Merrill hatten zu drei freien Stellen im Kollegium der Zwölf Apostel geführt, die durch George F. Richards, Orson F. Whitney und David O. McKay besetzt wurden.2
Die Bekanntgabe der Rücktritte schien auf viele von Reeds Senatorenkollegen eine positive Wirkung zu haben. „Nach allem, was ich höre“, hatte Reed den Führern der Kirche berichtet, „werten die Senatoren im Allgemeinen das Vorgehen auf der letzten Konferenz als Beweis für den guten Willen der Kirche und insbesondere von Präsident Joseph F. Smith.“3
Das galt jedoch nicht für die Mitglieder des Senatsausschusses, von denen die meisten der Kirche gegenüber misstrauisch blieben. Nach Abschluss ihrer Untersuchungen sprachen sie sich dafür aus, dass Reed seines Amtes enthoben werden solle.4
Im Februar 1907 befasste sich schließlich der Senat in seiner Gesamtheit mit der Sache – vier Jahre nachdem die Wahl Reeds erstmals einen öffentlichen Aufschrei ausgelöst hatte. Der Ausschuss hatte mehr als dreitausend Seiten an Aussagen von mehr als einhundert Zeugen zusammengetragen – einige hatten sich ablehnend geäußert, andere wiederum positiv. Als die Senatoren die Aufzeichnungen durchgingen, fielen auch ihre persönlichen Kontakte mit Reed ins Gewicht, der in Washington den Respekt vieler gewonnen hatte. Theodore Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten, war ein entschiedener Befürworter Reeds und forderte den Senat eindringlich auf, für dessen Verbleib zu stimmen. Bei ihrer Abstimmung entschieden die Senatoren schließlich gegen die Empfehlung des Ausschusses – Senator Smoot durfte seinen Sitz behalten.5
Innerhalb weniger Tage schickte Joseph F. Smith Reed seine Glückwünsche und dankte den Senatoren für ihr wohlwollendes Abstimmungsverhalten. Er äußerte den Wunsch, dass auch andere die Heiligen besser kennenlernten. „Dann würden das derzeitige Missverständnis und die weit verbreitete unrichtige Darstellung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage für immer aufhören“, schrieb er.6
Ein paar Wochen später eröffnete Präsident Smith die Generalkonferenz im April 1907 mit weiteren guten Nachrichten. „Im Jahr 1906 wurde mehr an Zehnten gezahlt als in irgendeinem Jahr davor“, erklärte er. „Heute hat die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage keinen einzigen Dollar Schulden, den sie nicht umgehend bezahlen könnte. Endlich sind wir so weit, dass wir alles aus eigenen Mitteln finanzieren können.“
Er lobte die Glaubenstreue der Heiligen und sagte: „Wir müssen kein Geld mehr ausleihen, und das wird auch so bleiben, wenn die Heiligen der Letzten Tage ihr Leben weiterhin nach ihrer Religion ausrichten und das Gesetz des Zehnten befolgen.“7
Nach seiner Predigt lud Präsident Smith Orson F. Whitney ein, eine öffentliche Erklärung zu verlesen, die die Erste Präsidentschaft und die Zwölf Apostel über die Glaubensinhalte und Wertvorstellungen der Heiligen der Letzten Tage vorbereitet hatten. In der Erklärung wurde auf zahlreiche Vorwürfe eingegangen, die bei den Anhörungen von Reed Smoot gegen die Kirche und ihre Mitglieder erhoben worden waren. Aber den Heiligen gab diese Erklärung auch eine offizielle Zusammenfassung vieler Grundlagen und Praktiken des Evangeliums an die Hand. „Unsere Religion gründet sich auf die Offenbarungen Gottes“, hieß es in der Erklärung. „Das Evangelium, das wir verkünden, ist das Evangelium Christi, das auf der Erde wiederhergestellt worden ist.“
In der Erklärung wurden die Heiligen als ein ehrliches, aufgeschlossenes, intelligentes und frommes Volk geschildert. Auch die Verbundenheit der Heiligen mit dem Zuhause und der Familie, auch der monogamen Ehe, kam darin zum Ausdruck. „Der typische Mormonenhaushalt ist ein Tempel der Familie“, hieß es darin. „Die Mormonen befolgen respektvoll die Gesetze, die gegen die Mehrehe erlassen wurden.“
In der Erklärung wurde auch auf die Grundsätze der individuellen Entscheidungsfreiheit, des Zehnten und der Führung durch das Priestertum eingegangen. Und sie bescheinigte den Heiligen der Letzten Tage Patriotismus, Treue gegenüber ihrer Regierung auf Erden und ihr Bekenntnis zur Trennung von Kirche und Staat. „Wir wollen in Frieden und Vertrauen mit unseren Mitbürgern aller politischen Parteien und aller Religionen zusammenleben“, wurde darin verkündet.
Das wiederhergestellte Evangelium wolle die Gesellschaft erheben – hieß es in der Erklärung – und keinesfalls zerstören. „Unsere Religion ist mit unserem Leben verwoben, sie formt unseren Charakter, und die Wahrheit ihrer Grundsätze hat sich unserer Seele eingeprägt“, hieß es weiter.8
Nachdem Elder Whitney die Erklärung zu Ende gelesen hatte, sprach Francis Lyman im Namen des Kollegiums der Zwölf Apostel seine Unterstützung dafür aus. Auf die Bitte von Präsident Smith hin stimmte die Versammlung dann einstimmig dafür, diese Botschaft anzunehmen und zu bestätigen.9
Am 16. April 1908 verstarb Jane Manning James, eine der ersten schwarzen Heiligen der Letzten Tage, in ihrem Haus in Salt Lake City. Sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern im September 1847 als Teil der ersten Gruppe von Heiligen, die Brigham Young nach Westen gefolgt waren, im Salzseetal angekommen.10 Mit der Zeit war sie in der Stadt ziemlich bekannt geworden. Sie war stolz auf ihre achtzehn Enkelkinder und ihre sieben Urenkel. Sie und ihr Bruder Isaac besuchten die Versammlungen der Kirche im Tabernakel von Salt Lake City und nahmen oft an Treffen der „älteren Generation“ und der Pioniere der Kirche teil.11
Ihre Trauerfeier wurde im Gemeindehaus der Gemeinde 8 in Salt Lake City ausgerichtet. Die Kapelle war gefüllt mit Janes Freunden, sowohl Schwarzen als auch Weißen, die gekommen waren, um ihrer zu gedenken. Der Raum war voller Blumen zu Ehren von Janes Glauben und ihrer Herzlichkeit.
Janes Freundin Elizabeth Roundy verlas einen kurzen autobiografischen Abriss, den ihr Jane einige Jahre zuvor diktiert hatte. Jane war in Freiheit geboren worden zu einer Zeit, da die Sklaverei noch erlaubt gewesen war und Schwarze auf der ganzen Welt oft als tiefer gestellt behandelt wurden. Ihre Autobiografie erzählte die Geschichte ihrer Bekehrung im Osten der Vereinigten Staaten, den fast dreizehnhundert Kilometer langen Fußmarsch ihrer Familie nach Nauvoo und wie sie bei der Familie des Propheten Joseph Smith gelebt und für sie gearbeitet hatte. Darin stand auch, wie Emma Smith Jane zweimal angeboten hatte, in ihre und Josephs Familie adoptiert zu werden.12
Am Ende ihrer Autobiografie legte Jane feierlich Zeugnis ab. Sie war verwitwet, hatte bis auf zwei alle ihre Kinder und zehn ihrer Enkel überlebt und war zu diesem Zeitpunkt schon fast blind, doch sie bestätigte: „Der Herr beschützt mich und kümmert sich gut um mich in meinem hilflosen Zustand, und ich möchte an der Stelle sagen, dass mein Glaube an das Evangelium Jesu Christi, wie es von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gelehrt wird, heute noch genauso stark, ja, sogar noch stärker ist als an dem Tag, an dem ich mich taufen ließ.“13
Auch Präsident Joseph F. Smith sprach bei der Trauerfeier. Im Laufe der Jahre hatte sich Jane mitunter an ihn gewandt, weil sie für sich und ihre verstorbenen Angehörigen die heiligen Handlungen des Tempels empfangen wollte. Sie sehnte sich besonders danach, das Endowment zu empfangen und an eine Familie gesiegelt zu werden.14 Aber seit Anfang der 1850er Jahre hatte die Kirche den Heiligen afrikanischer Abstammung das Priestertum und, mit Ausnahme der Taufe für die Verstorbenen, die heiligen Handlungen des Tempels verwehrt. Es gab verschiedene Erklärungen für diese Einschränkung, aber das waren Mutmaßungen und sie stellten nicht das Wort Gottes dar. Brigham Young hatte verheißen, dass alle Heiligen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft eines Tages alle Verordnungen und Segnungen des Evangeliums erhalten würden.15
Wie andere schwarze Heilige hatte Jane Taufen für ihre verstorbenen Verwandten durchgeführt. Sie hatte auch darum gebeten, das Endowment zu empfangen und dann durch einen Stellvertreter an Walker Lewis gesiegelt zu werden, einen der wenigen schwarzen Heiligen, die das Priestertum getragen hatten, bevor die Einschränkung wirksam wurde. Später bat sie darum, durch Adoption an die Familie von Joseph Smith gesiegelt zu werden. Aber jedes Mal, wenn sie um das Endowment oder die Siegelung bat, hatte Joseph F. Smith oder ein anderer Führer der Kirche erneut die Einschränkung der Kirche bekräftigt.16
Mithilfe der Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, Zina Young, hatte Jane jedoch von den Führern der Kirche die Erlaubnis erhalten, für die Ewigkeit mit Joseph Smiths Familie verbunden zu werden. Auf ihre Bitte hin hatten sie eine Zeremonie mit Stellvertretern vorbereitet, mit der Jane als Dienerin in die Familie aufgenommen wurde. Zina Young hatte bei der Zeremonie als Janes Stellvertreterin fungiert, während Joseph F. Smith den Propheten Joseph Smith vertrat.17
Obwohl Jane mit dieser Zeremonie unzufrieden war, blieb sie weiterhin treu. „Ich zahle meinen Zehnten und meine Opfergaben und halte das Wort der Weisheit“, erzählte sie. „Ich gehe früh schlafen und stehe früh auf. Ich versuche auf meine schwache Art, allen ein gutes Beispiel zu geben.“18
Im Jahr 1902 fragte Jane den Patriarchen John Smith, den älteren Bruder von Joseph F. Smith, wann sie ihr Endowment erhalten könne. „Sei geduldig und warte noch ein wenig“, hatte er gesagt und ihr versichert, dass der Herr sie im Blick habe. Er verhieß, dass der Herr „ihr viel mehr Gunst erweisen werde, als sie es sich je hatte erträumen lassen“. Bis zum Ende ihres Lebens hielt Jane an der Hoffnung fest, dass sie eines Tages alle Segnungen des Tempels erhalten werde.19
Nach der Trauerfeier wurde Jane auf dem Friedhof von Salt Lake City beigesetzt. „Nur wenige Menschen waren so bekannt für ihren Glauben und ihre Glaubenstreue wie Jane Manning James“, schrieb die Deseret News in ihrem Nachruf. „Obwohl sie aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte sie hunderte Freunde und Bekannte.“20
Im Juli 1909 begann die Salt Lake Tribune, reihenweise die Namen von Männern zu veröffentlichen, die seit dem Manifest angeblich neue Mehrehen geschlossen hatten. Die Liste beunruhigte die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel. Joseph F. Smith beauftragte umgehend die Apostel Francis Lyman, John Henry Smith und Heber J. Grant, die Angelegenheit zu untersuchen und Mitglieder zur Rechenschaft zu ziehen, die seit dem zweiten Manifest gegen die Richtlinien der Kirche zur Mehrehe verstoßen hatten.21
Die Untersuchung dauerte mehr als ein Jahr und führte zum Ausschluss von zwei Männern, die vor kurzem neue Mehrehen eingegangen waren oder geschlossen hatten. Die Erste Präsidentschaft sandte auch einen Brief an alle Pfahlpräsidentschaften und wies sie an, die Bischöfe zu beauftragen, bei Verstößen gegen das zweite Manifest Disziplinarmaßnahmen zu ergreifen. „Wir sind der Meinung, dass jeder, der gegen diese wichtige Verhaltensregel verstößt, nicht nur privat eine Übertretung begeht, sondern auch die Kirche entehrt“, schrieben sie.22
Um diese Zeit herum veröffentlichte Pearson’s, eine beliebte Zeitschrift in den Vereinigten Staaten, eine Reihe von kritischen Artikeln über die Kirche. Die Artikel nahmen die in der Salt Lake Tribune aufgezählten neuen Mehrehen zum Anlass und beschuldigten die Kirche der Unehrlichkeit und Korruption. Joseph F. Smith erfuhr auch, dass eine weitere bekannte Zeitschrift, nämlich Everybody’s, eine ähnliche Serie zu veröffentlichen beabsichtigte, die von Frank Cannon, einem Sohn von George Q. Cannon, verfasst werden solle.23
Frank war ein ehemaliger Senator des Bundesstaates Utah und hatte früher auch einmal als Berater der Ersten Präsidentschaft fungiert. Allerdings hatten sein starker Alkoholkonsum, seine außerehelichen Beziehungen und andere Verfehlungen einen Keil zwischen ihn und die Führer der Kirche getrieben. Nach dem Tod seines Vaters wurde er ein erbitterter Kritiker der Kirche und Joseph F. Smiths, und seine frühere Stellung unter den Heiligen verlieh seinen Worten einen Anschein von Glaubwürdigkeit.24
Als Joseph F. Smith und Anthon Lund von Franks Plänen erfuhren, schrieben sie sogleich an den Herausgeber von Everybody’s und warnten ihn, dass Franks Schilderungen unrichtig seien und keine Beachtung verdienten. Doch die Redakteure waren oftmals begierig darauf, Skandale und Enthüllungen zu drucken, und der Herausgeber begann umgehend mit der Veröffentlichung von Franks Artikeln. Schon bald hatte die Zeitschrift einen Leserkreis aus dem ganzen Land.25
Frank war nicht der erste ehemalige Heilige der Letzten Tage, der die Kirche öffentlich verunglimpfte. Ezra Booth, John C. Bennett, T. B. H. und Fanny Stenhouse sowie William Jarman hatten allesamt versucht, der Kirche durch schriftliche Stellungnahmen Schaden zuzufügen. Doch die Beliebtheit von Franks Artikelreihe war niederschmetternd.
Wieder einmal stand die Kirche im Kreuzfeuer der öffentlichen Meinung.26
Eine Handvoll Studenten der Heiligen der Letzten Tage und Missionare der Schweizerisch-Deutschen Mission jubelten, als Emma Lucy Gates im Königlichen Opernhaus Berlin zum zweiten Mal vor den Vorhang trat. Seit sie ein Jahrzehnt zuvor mit John und Leah Widtsoe nach Deutschland gekommen war, war Lucy zu einem aufstrebenden Stern der europäischen Opernwelt geworden und sang nun das erste Mal in diesem berühmten Haus. Sie enttäuschte ihr Publikum nicht.
Von der Bühne aus konnte Lucy den Glauben und die Unterstützung der Heiligen spüren, die kaum einsehbare Plätze auf der oberen Empore hatten. Sie nannten sie ihre „Nachtigall von Utah“. Viele von ihnen hatten an diesem Abend für sie gebetet, und einige hatten sogar gefastet.27
Die Zeitungen waren voll des Lobes für sie. „Die Stimmbildung lässt nichts zu wünschen übrig“, schrieb ein Rezensent, „und die nuancierte, ausdrucksstarke Technik zeugt von wahrem musikalischem Können.“28
Zwar erwähnte so mancher Lucys holpriges Deutsch, doch keiner ihre Herkunft und Religion. Der Widerstand gegen die Kirche war in Deutschland und anderen Teilen Europas immer noch auf dem Vormarsch, deshalb hatte Lucy vor dem Königlichen Opernhaus ihre Mitgliedschaft in der Kirche geheim gehalten. Die meisten deutschen Heiligen wurden an ihrem Wohnort schikaniert, und Missionare mussten mitunter eine Geldbuße bezahlen oder wurden ausgewiesen, festgenommen oder gar ins Gefängnis gesteckt.29
Lucys Gesangslehrerin, Madame Blanche Corelli, hatte sie gedrängt, um ihrer Karriere willen ihre Religionszugehörigkeit nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. In einem Brief nach Hause erzählte Lucy ihrer Mutter Susa Gates, dass sie sich am Königlichen Opernhaus schweren Herzens als Protestantin ausgegeben habe. Lucy wollte ihren Glauben nicht verbergen, aber sie wollte auch nicht zulassen, dass die Vorurteile anderer ihr die Zukunft raubten.30
Susa unterstützte ihre Entscheidung und erklärte, sie habe mit Präsident Smith darüber gesprochen, der gemeint habe, es sei in Ordnung, wenn sie ihre Religionszugehörigkeit für sich behielte. Auch ihr Vater, Jacob Gates, unterstützte sie darin. „Du tust das für einen guten Zweck“, schrieb er, „und nicht, weil du dich für das schämst, was du als wahr erkannt hast.“31
Im Sommer 1910 verschärfte sich in Deutschland der Widerstand gegen die Kirche, sodass Lucy schon Angst hatte, öffentlich mit den Heiligen in Berlin den Gottesdienst zu besuchen. Die Polizei hatte in der Stadt nämlich kurz zuvor einundzwanzig Missionare, Touristen und Studenten der Heiligen der Letzten Tage verhaftet. Als die Beamten sie achtzehn Stunden später aus dem Gefängnis entließen, wurden sie als „unerwünschte Ausländer“ aus der Stadt gewiesen. Nur wenige Studenten durften bleiben, doch diese durften weder zur Kirche gehen noch das Evangelium verkünden.32
Nachdem Lucy drei Wochen lang die Versammlungen der Kirche vermieden hatte, sehnte sie sich im September danach, mit den Heiligen zusammenzukommen und vom Abendmahl zu nehmen. Sie regte an, dass für die dortigen amerikanischen Mitglieder eine kleine Abendmahlsversammlung abgehalten werden solle – so wie sie es damals mit Leah und John in Göttingen getan hatten. Da aber alle religiösen Versammlungen offiziell angemeldet werden mussten, traf sich die kleine Gruppe im Geheimen.
Bei diesen Treffen nahmen die amerikanischen Mitglieder vom Abendmahl, sangen Kirchenlieder und gaben Zeugnis. Lucy hatte mehrere von der Kirche herausgegebene Bücher mit nach Berlin gebracht, darunter auch die heiligen Schriften. Bei ihrem zweiten Treffen lasen sie im Buch Lehre und Bündnisse und sprachen eine Stunde lang über die Lehre von der Auferstehung.
„Bitte erzähle das jetzt nicht weiter“, warnte Lucy ihre Mutter in einem Brief, worin sie ihr von den Versammlungen erzählte. Die deutsche Regierung beobachtete nämlich die Nachrichten aus Salt Lake City ganz genau. Würde in einer Zeitung in Utah ein Artikel über ihre geheimen Treffen erscheinen und bekäme die Polizei in Berlin das mit, wären Lucy und ihre Freunde in großer Gefahr.
„Wir könnten ins Gefängnis kommen“, schrieb sie. „Seid also bitte alle vorsichtig, die ihr das lest.“33
Im Januar und Februar 1911 veröffentlichte die Zeitschrift McClure’s in New York unter dem Titel „Das Wiederaufleben der Polygamie unter den Mormonen“ einen zweiteiligen Artikel über die Mehrehe nach dem Manifest. Mit solchen Artikeln veröffentlichten nun drei der auflagenstärksten Zeitschriften in den Vereinigten Staaten ihre Angriffe auf die Kirche. Die Artikel erreichten eine Leserschaft, die in die Millionen ging.34
Laut dem Artikel von McClure’s waren in den einundzwanzig Jahren seit dem Manifest geschätzt zwischen 1500 und 2000 Mehrehen geschlossen worden. In Wirklichkeit lag die Zahl damals bei 260, aber das hielt den Verfasser nicht davon ab, seine Zahlen zu veröffentlichen. „Es scheint unwahrscheinlich, dass diese Praxis in absehbarer Zeit ein Ende findet“, schrieb er. Er rechnete sogar vor, dass es genug junge Leute gäbe, die neue Mehrehen eingingen, sodass die Polygamie für mindestens weitere fünfzig Jahre fortleben würde.35
Der Artikel erregte die Aufmerksamkeit des Journalisten Ike Russell aus New York, der in Utah in der Kirche aufgewachsen war. Er war ein Enkel des Apostels Parley P. Pratt, und der Onkel seiner Frau war Missionspräsident in New York. Ike hatte der Kirche in seiner Jugend den Rücken zugekehrt, verfolgte jedoch weiterhin die Nachrichten aus Utah und fühlte sich den Heiligen verbunden.36
Ike störte es, dass so vieles an dem Artikel in McClure’s unwahr und irreführend war. Auf einer Seite waren Bilder von sieben Aposteln zu sehen, die nach dem Manifest weitere Frauen geheiratet hatten. Die Bildunterschrift lautete: „Die Kirche hat nicht einen von ihnen wegen des Verstoßes gegen die Offenbarung ausgeschlossen.“ Tatsächlich waren fünf der Männer bereits verstorben, und die beiden anderen waren John W. Taylor und Matthias Cowley, die nicht mehr dem Kollegium angehörten. In dem Artikel blieb auch unerwähnt, dass bis auf einen der abgebildeten Apostel alle anderen inzwischen durch Männer ersetzt worden waren, die monogam lebten.37
Ike schrieb wegen des fehlerhaften Artikels einen Leserbrief an McClure’s. Er schrieb auch an andere Zeitschriften, doch die Redakteure ignorierten ihn weitgehend.38
Da fühlte er sich veranlasst, etwas anderes zu versuchen. In einem Artikel in Pearson’s wurde behauptet, dass der ehemalige US-Präsident Theodore Roosevelt eine Abmachung mit den Führern der Kirche getroffen habe, um sich kurz vor der Wahl Stimmen zu sichern. Wenn Ike denn Roosevelt dazu bringen könne, die Behauptung in einem Brief zu dementieren, könnte er anhand dessen den Artikel widerlegen.
Ike setzte sich hin und begann zu schreiben. „Ich schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass Sie so gut sind, mich dabei zu unterstützen, die Berichte mehr an die Tatsachen anzunähern.“39
Währenddessen erfuhr der Apostel und Präsident der Europäischen Mission Rudger Clawson in England, dass die britische Regierung eine Untersuchung der missionarischen Tätigkeiten der Heiligen der Letzten Tage einleiten wolle. Da die Deutschen ja bereits Missionare aus ihren Städten auswiesen, stellten sich einige Abgeordnete die Frage, ob denn die Briten nicht ebenfalls so vorgehen sollten. Obwohl einige wenige britische Journalisten für religiöse Toleranz gegenüber den Heiligen eintraten, wurden die Missionare im Vereinigten Königreich weiterhin als Vertreter einer fremden Kirche gesehen, die fremde Ideen lehrte und Britinnen in die Mehrehe lockte.40
Kritiker der Kirche schürten diese Ängste und untergruben damit die gute Arbeit der Missionarinnen, die falsche Vorstellungen aus dem Weg räumen wollten. Dem Beispiel von William Jarman folgend, der immer noch gelegentlich Vorträge hielt, bereiste auch ein anderer ehemaliger Heiliger der Letzten Tage aus den Vereinigten Staaten mit vernichtenden Schilderungen von seinen Erfahrungen in der Kirche das Land. Andere veröffentlichten mormonenkritische Literatur und führten den Widerstand gegen die Heiligen an.41
Anfang 1911 schrieb Rudger an den britischen Innenminister Winston Churchill und versprach, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. „Im Falle einer Untersuchung“, schrieb er, „sind wir bereit und willens, Ihnen jede mögliche Unterstützung zu geben.“ Bald darauf begann Churchill eine Untersuchung der Kirche und ihrer missionarischen Tätigkeit. „Ich setze mich ganz ernsthaft damit auseinander“, sagte er dem Parlament.42
Der Widerstand gegen die Kirche in Großbritannien blieb bis ins Frühjahr hinein beständig. An einem Sonntag im April stiftete eine Gruppe in Liverpool, die einen Kreuzzug gegen die Mormonen starten wollte, Unruhe in der Stadt Birkenhead, wo sich etwa dreißig Heilige in einem Saal trafen. Angestachelt von einer Menschenmenge stürzten sich einige der Randalierer auf die Polizisten, die vor dem Saal standen. Andere warfen Steine an die Fenster.
Als die Gewalt eskalierte, versuchten die Beamten, die Unruhestifter zu verhaften, doch die Randalierer wehrten sich. Einige aus dem Mob händigten den Missionaren ein Schreiben aus mit der Aufforderung, Birkenhead innerhalb von sieben Tagen zu verlassen.
„Ich werde dem keine Beachtung schenken“, entgegnete der Missionar Richard Young, der bei der Konferenz den Vorsitz führte.
„Seid ihr bereit, die Konsequenzen zu tragen?“, fragte einer aus dem Mob.
„Ja“, antwortete Young.43
Die örtlichen Zeitungen veröffentlichten Artikel über die Unruhen und das Ultimatum des Pöbels, und viele Menschen warteten gespannt, was sich nun zutragen werde. Rudger befürchtete, dass die Missionare verletzt würden, falls sie in der Stadt blieben. Aber nachdem er sich mit Richard und den anderen Missionaren abgestimmt hatte, hielt er daran fest, dass sie bleiben sollten. Wenn die Missionare nun Birkenhead verließen, was würde den Mob dann davon abhalten, die Missionare auch aus anderen Städten und Dörfern vertreiben zu wollen?44
Rudger erklärte den folgenden Sonntag zum Gebets- und Fasttag für die Missionare. Als der Tag kam, versammelten sich die Missionare in Birkenhead zu ihrer ersten öffentlichen Versammlung seit Beginn der Unruhen. Die Polizei kam und bildete vor dem Saal eine Kette. Bald versammelte sich eine Menge von etwa fünftausend Menschen, und einige Randalierer zogen mit einer Blaskapelle an der Polizei vorbei. Die Menge jubelte dem Pöbel zwar zu, doch es brach keine Gewalt aus.
Einige Beobachter waren beeindruckt, dass die Missionare dem Mob standhielten. „Anscheinend änderte das den Tonfall der Zeitungsartikel über uns“, berichtete Rudger der Ersten Präsidentschaft. „Vorerst scheinen sie Beschimpfungen und Bosheiten gegenüber den Heiligen der Letzten Tage auf Eis gelegt zu haben.“45
Winston Churchill setzte unterdessen seine Untersuchungen über die Kirche fort. Im ganzen Land befragte die Polizei die Angehörigen junger Frauen, die sich der Kirche angeschlossen hatten und nach Utah ausgewandert waren, und Regierungsbeamte besuchten die Gottesdienste. Niemand fand Beweise dafür, dass die Kirche oder ihre Missionare Schaden anrichteten. Zufrieden kam Churchill zu dem Schluss, dass es keinen Grund gäbe, die Missionare auszuweisen, und er empfahl, keine rechtlichen Schritte gegen die Heiligen zu unternehmen.46
In Utah erhielt Joseph F. Smith die Kopie eines langen Briefes, den Theodore Roosevelt an Ike Russell geschrieben hatte und in dem er die Behauptung widerlegte, er habe mit den Heiligen eine Abmachung getroffen, um die Wählerstimmen aus Utah zu bekommen. „Die Anschuldigung ist nicht nur faktisch falsch“, legte Roosevelt in seinem Schreiben dar, „sondern außerdem derart lächerlich, dass es schwierig ist, sie ernsthaft zu diskutieren.“47
Joseph wusste, dass Ike den Brief in der Zeitschrift Collier’s, die eine Leserschaft von etwa einer Million hatte, veröffentlichen wollte. Reed Smoot drängte Joseph ebenfalls dazu, etwas gegen die Angriffe zu unternehmen. „Wenn wir nicht handeln“, warnte Reed, „bezweifle ich, dass wir einer Untersuchung entgehen können.“ Doch bis jetzt hatte Joseph nur wenig getan, um auf die Zeitschriftenartikel zu reagieren.48
Anfang April 1911 schickte er ein Telegramm an Reed mit der Frage, ob irgendeine Zeitung im Osten eine offizielle Stellungnahme der Kirche veröffentlichen würde. Reed wandte sich sofort an die Zeitungen, doch niemand wollte ihm eine feste Zusage machen. Ike erreichte unterdessen, dass der Brief von Theodore Roosevelt in der Zeitschrift Collier’s erschien. Joseph war erfreut darüber und ließ den Brief samt Stellungnahme der Kirche als Flugblatt veröffentlichen und an einflussreiche Bürger in den Vereinigten Staaten und Großbritannien schicken.49
Trotzdem erschienen immer neue kritische Artikel über die Kirche. Im März ging eine vierte Zeitschrift, Cosmopolitan, mit einer Reihe von drei Artikeln an die Öffentlichkeit, in denen die Kirche mit einer Viper verglichen wurde, die das Zuhause und die Familie angreifen wolle. Wie die anderen Zeitschriften behauptete sie, die Kirche unterstütze immer noch die Mehrehe.50
Etwa zu dieser Zeit hörte Francis Lyman davon, dass John W. Taylor und Matthias Cowley vor kurzem weitere Frauen geheiratet und zudem weitere Mehrehen geschlossen hätten. Er und sein Ausschuss trafen sich mit beiden Männern separat. John W. war bei diesem Treffen uneinsichtig. Er hatte 1909 tatsächlich eine weitere Frau geheiratet, weigerte sich jedoch, dies entweder zuzugeben oder zu leugnen.51 Matthias hingegen gab zu, dass er falsch gehandelt habe. Schließlich schlossen die Zwölf Apostel John W. aus der Kirche aus und verboten Matthias, seine Priestertumsvollmacht auszuüben.52
Nachdem die ehemaligen Apostel zur Rechenschaft gezogen worden waren, reiste Joseph F. Smith nach Washington. Dort traf er sich im Haus von Reed und Allie Smoot mit einem Reporter. Der Reporter befragte ihn zu seiner politischen Ausrichtung, zu den Finanzen und weiteren Themen, die in kirchenkritischen Artikeln im Allgemeinen thematisiert wurden. Vor allem ging es jedoch um die Mehrehe. Joseph ging offen auf die Fragen des Reporters ein und war bestrebt, die Falschinformationen, die in den Zeitschriften kursierten, richtigzustellen.
„Polygamie wird bei den Mormonen jetzt absolut missbilligt und ist von der Kirche inzwischen verboten“, erklärte Joseph.
„Wie können Sie beweisen, dass Polygamie von der Mormonenkirche inzwischen absolut verboten ist?“, wollte der Reporter wissen.
„Der beste Beweis dafür, dass wir ernsthaft und gewissenhaft gegen die Polygamie vorgehen“, erwiderte Joseph, „zeigt sich darin, dass Herr Taylor, der früher Apostel der Kirche und Mitglied des leitenden Ratsgremiums war, inzwischen ausgeschlossen wurde.“53
Das Interview erschien ein paar Tage später in der Zeitung, und es folgten bald weitere positive Artikel über die Heiligen. „Ich höre lediglich gute Berichte über deinen Besuch hier“, schrieb Reed an Joseph. „Ich glaube, er hat unheimlich viel Gutes bewirkt.“54
Mit der Zeit verloren die Zeitschriften das Interesse an der Veröffentlichung kirchenkritischer Artikel. Später im Sommer schrieb Joseph an Ike Russell über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. „Wir glauben, dass sich die öffentliche Meinung ändern wird“, stellte er fest. „Wir mussten uns von Anfang an durchkämpfen und erwarten auch nichts anderes als Widerstand der einen oder anderen Art, bis letztlich der Sieg errungen ist.“55