Geschichte der Kirche
Kapitel 15: Kein größerer Lohn


„Kein größerer Lohn“, Kapitel 15 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021

Kapitel 15: Kein größerer Lohn

Kapitel 15

Kein größerer Lohn

Cardston-Tempel mit den Rocky Mountains im Hintergrund

Das ganze Jahr 1921 hindurch erhielt Heber J. Grant von David O. McKay und Hugh Cannon Briefe über ihre Weltreise. Nachdem sich die beiden Männer im Mai mit den Heiligen in Samoa getroffen hatten, besuchten sie die Fidschi-Inseln, kehrten anschließend nach Neuseeland zurück und bereisten sodann Australien. Danach machten sie in Südostasien Halt und fuhren weiter nach Indien, Ägypten, Palästina, Syrien und in die Türkei.1

In der vom Krieg gezeichneten Stadt Antep in der Türkei trafen sie sich mit etwa dreißig armenischen Heiligen der Letzten Tage, die aus ihrer Heimat zu fliehen beabsichtigten. In den vergangenen zehn Jahren waren in Ortschaften wie Antep unzählige Armenier getötet worden, darunter auch die dortige Zweigpräsidentschaft sowie weitere Heilige der Letzten Tage. Die Heiligen in Utah hatten für die Mitglieder dort gefastet, und die Erste Präsidentschaft hatte ihnen Hilfsgelder zukommen lassen. Aber die Gewalt war eskaliert und machte es für die armenischen Heiligen zunehmend gefährlich, im Land zu bleiben.2

Unter großer Mühe und mit vielen Gebeten gelang es dem Missionspräsidenten Joseph Booth und dem dortigen Führer der Kirche, Moses Hindoian, für dreiundfünfzig Personen einen Pass zu beschaffen. Die Heiligen machten sich auf den Weg in die über einhundert Kilometer weiter südlich gelegene Stadt Aleppo in Syrien. Dort befand sich ein Zweig der Kirche. Die Flüchtlinge kämpften sich vier Tage lang durch Dauerregen, gelangten aber schließlich sicher an ihr Ziel.3

In seinem letzten Bericht, den Elder McKay der Ersten Präsidentschaft erst nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten vorlegte, lobte er die Heiligen in der ganzen Welt. Er war begeistert von den kircheneigenen Schulen und empfahl, sie mit besseren Lehrern, Lehrbüchern und Geräten auszustatten. Er äußerte sich besorgt über die Herausforderungen der Missionspräsidenten und regte an, mit dieser Aufgabe nur die erfahrensten Führungspersönlichkeiten zu betrauen. Er empfahl auch, dass die Generalautoritäten häufiger reisen sollten, um die Heiligen in deren Heimatländern zu unterstützen.4

Der Prophet griff Elder McKays Vorschläge auf. In der Vergangenheit hatten die Mitglieder an Kraft gewonnen, weil sie sich in Utah gesammelt hatten. Doch die Tage waren vorbei, da die Führer der Kirche die Heiligen drängten, nach Zion zu ziehen. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten viele Heilige nämlich die Kleinstädte Utahs verlassen, um in größeren Städten der Vereinigten Staaten bessere Arbeit zu finden. Mehr und mehr wünschten sich die Mitglieder in den Zweigen und Missionen in aller Welt die gleiche Unterstützung, die die Heiligen in der Anfangszeit der Kirche in den Gemeinden und Pfählen im amerikanischen Westen gefunden hatten.5

Während seiner Reise nach Südkalifornien Anfang 1922 war Heber beeindruckt von der Größe der Zweige der Kirche im Raum Los Angeles. „Die Kalifornien-Mission wächst rasant“, verkündete er auf der Generalkonferenz im April 1922. Schon bald würden die Heiligen dort für einen Pfahl bereit sein.6

Doch Heber wusste, dass die Mitglieder der Kirche mehr als eine starke Gemeinschaft brauchten, um dem Glauben treu zu bleiben. Die Zeiten änderten sich, und wie manch anderen aus seiner Generation stimmte es auch ihn nachdenklich, dass die Gesellschaft immer weltlicher und freizügiger wurde.7 Angesichts dieser gefährlichen Einflüsse hielt er die jungen Heiligen dazu an, am Programm der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung teilzunehmen. Dieses Programm unterstützte die Jugendlichen im Glauben an Jesus Christus und hielt sie dazu an, den Sabbat heiligzuhalten, die Kirche zu besuchen, geistig Fortschritt zu machen, sparsam zu leben und gute Staatsbürger zu sein. Auch wurden die Jugendlichen darin bestärkt, das Wort der Weisheit zu halten, denn gerade diesen Grundsatz hatte Heber häufig betont, seit er Präsident der Kirche geworden war.8

„Wenn wir aus den Jungen und Mädchen, die diese Versammlungen besuchen, Heilige der Letzten Tage machen können“, erklärte er, „haben diese Vereinigungen ihren Zweck erfüllt, und der Segen des Allmächtigen ruht dann auf unseren Bemühungen.“9

Aber nicht alle Aspekte des modernen Lebens beunruhigten Heber. Am Abend des 6. Mai 1922 nahmen er und seine Frau Augusta an der ersten abendlichen Radiosendung von KZN teil, dem kircheneigenen Rundfunk in Salt Lake City. Radiowellen waren eine ganz neue Technik, und die Sendezentrale war kaum mehr als eine Bruchbude aus Blech und Holz. Aber mit elektrischen Signalen sendeten die Betreiber in Sekundenschnelle Nachrichten in einem Umkreis von mehr als tausend Kilometern.

Heber hielt sich das große Radiomikrofon vor den Mund und las einen Abschnitt aus Lehre und Bündnisse über den auferstandenen Erretter vor. Dann gab er schlicht und einfach Zeugnis für Joseph Smith. Es war das erste Mal, dass ein Prophet über Funkwellen das wiederhergestellte Evangelium verkündete.10


Noch im selben Monat spürte Susa Gates bei einer Sitzung über die Zukunft der FHV-Zeitschrift Relief Society Magazine, dass weitere Veränderungen bevorstanden. Sie war Herausgeberin dieser Zeitschrift gewesen, seit diese 1914 an die Stelle des Woman’s Exponent getreten war. Von Anfang an war ihr daran gelegen gewesen, dass die Zeitschrift „ein Leuchtfeuer der Hoffnung, Schönheit und Nächstenliebe“ sei. Doch sie merkte, dass das Schicksal der Zeitschrift letztlich nicht mehr in ihrer Hand lag.11

Im Laufe der Monate übernahmen Clarissa Williams, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, sowie deren Sekretärin Amy Brown Lyman vermehrt die Herausgabe und brachten auch Artikel über Sozialarbeit und die Zusammenarbeit der Frauenhilfsvereinigung mit anderen Wohltätigkeitsorganisationen. Susa zweifelte nicht daran, dass sich Amy aufrichtigen Herzens für soziale Belange einsetzte. Sie fürchtete jedoch, Amy könnte zulassen, dass sich die Kirche zu sehr in Weltliches verstricke.12

Susa betete viel, um die Umstände anders sehen zu können, aber ihre Vorbehalte gegenüber der neuen Herangehensweise an die Aufgaben der Frauenhilfsvereinigung machten es ihr unmöglich, das Gute in dem zu sehen, was Amy erreichte. Das Rote Kreuz und weitere Hilfsorganisationen verwiesen nun alle Fälle, die Heilige der Letzten Tage betrafen, an die Frauenhilfsvereinigung. Oftmals ging es dabei um Mitglieder, die den Kontakt zur Kirche verloren hatten, nachdem sie ihre Gemeinden auf dem Land verlassen und in der Stadt Arbeit gesucht hatten. Um für diese Heiligen sorgen zu können, arbeitete die Frauenhilfsvereinigung mit öffentlichen und privaten medizinischen Einrichtungen, Bildungsstätten und Arbeitsvermittlungsagenturen zusammen.13

Clarissa hatte auch kürzlich mit Amy und dem Hauptausschuss ein Projekt entworfen, das die Säuglingssterblichkeit senken und die Anzahl der Mütter unter den Heiligen, die bei der Geburt starben, reduzieren sollte. Der Frauenhilfsvereinigung lag die Gesundheit der Frauen seit jeher auf dem Herzen, und gerade die Entbindung war ein großes Thema, denn die Sterblichkeitsrate unter Müttern und Säuglingen war in den Vereinigten Staaten hoch. Diese Tatsache veranlasste auch den Kongress dazu, Mittel für Organisationen bereitzustellen, die werdende Mütter unterstützten.

Doch schon bevor diese Mittel ausgeschüttet wurden, war der FHV-Hauptausschuss gemeinsam mit der Ersten Präsidentschaft darangegangen, in Salt Lake City eine Geburtsklinik einzurichten und auch die werdenden Mütter in abgelegeneren Gebieten medizinisch besser zu betreuen. Die Frauenhilfsvereinigung finanzierte das Projekt mit dem Geld, das sie während des Krieges durch den Verkauf von Getreide an die Regierung der Vereinigten Staaten eingenommen hatte.14

Da sich Susa mit den neuen Ansätzen und administrativen Änderungen innerhalb der Frauenhilfsvereinigung nicht abfinden konnte, legte sie ihr Amt im Hauptausschuss und bei der Zeitschrift Relief Society Magazine nieder. „In tiefer Verbundenheit gegenüber meinen Mitarbeiterinnen gebe ich diese Arbeit auf“, sagte sie dem Ausschuss, „und gehe zuversichtlich davon aus, dass sie für mich das Gleiche empfinden.“15

Da Susa niemals untätig war, wandte sie sich nun anderweitigen Beschäftigungen zu. Zuvor hatte sie Edward Anderson, den Herausgeber der Zeitschrift Improvement Era dafür kritisiert, dass in der Geschichte der Kirche die Frauen kaum Erwähnung fanden. Daraufhin empfahl ihr Edward, eine Geschichte der Frauen der Heiligen der Letzten Tage zu verfassen. Susa hatte bereits die Geschichte der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen verfasst, daher reizte sie das Projekt. Auch der Ersten Präsidentschaft gefiel der Vorschlag, und so nahm Susa kurze Zeit später ihre Arbeit auf.16

Der Geschichtsschreiber der Kirche, Apostel Joseph Fielding Smith, der Sohn von Präsident Joseph F. Smith, lud Susa ein, im Büro des Geschichtsschreibers an ihrer Geschichte zu arbeiten. Bald darauf führte er sie über den Flur in das Büro von Elder B. H. Roberts. Dort gab es einen Schreibtisch, eine Schreibmaschine, einen Waschtisch, zwei Stühle und Regale voller Bücher und Unterlagen.

Da sich Elder Roberts als Präsident der Oststaaten-Mission in New York aufhielt, sagte Elder Smith, dass sie das Büro benutzen könne, ohne dass B. H. davon zu erfahren brauche.

„Ich danke dir, Vater!“, schrieb Susa in ihr Tagebuch. „Hilf mir, die mir gegebenen Anweisungen zu befolgen!“17


Am 17. November 1922 ging Armenia Lees zehntes Jahr als Präsidentin der GFV Junger Damen im Pfahl Alberta in Kanada zu Ende. Ihre Amtszeit war von Mühseligkeiten geprägt gewesen. Bei jeder Wetterlage war sie mit Pferd und Wagen unterwegs gewesen und hatte die Mädchen und deren Leiterinnen besucht. Die Winter in Alberta waren extrem kalt und verlangten dem, der sich bei den eisigen Temperaturen ins Freie wagte, Beharrlichkeit und großen Mut ab. Doch Armenia zog sich stets die wärmste Kleidung an, hüllte sich in Steppdecken und Wollmäntel und trotzte Schnee und Eis.

Solche Fahrten waren nicht ungefährlich, aber ihr lag viel daran, die ihr Anvertrauten zu besuchen.

Armenia stammte ursprünglich aus Utah. Mit neunzehn hatte sie William Lee geheiratet, einen Witwer mit fünf kleinen Kindern. Sie zogen nach Kanada, als William in einem Laden in Cardston Arbeit gefunden hatte. Der Umzug war Armenia schwergefallen, doch sie und William fingen in der Kleinstadt ein neues Leben an. Sie hatten fünf weitere gemeinsame Kinder, gründeten ein Bestattungsunternehmen und zogen in ein Haus mit vier Zimmern. Wenige Monate vor ihrem zehnten Hochzeitstag erlitt William 1911 plötzlich einen Schlaganfall und starb. Armenia war noch keine dreißig Jahre alt und schon Witwe mit zehn Kindern in ihrer Obhut.18

Williams Tod war erschütternd und unerwartet gewesen, doch Armenia spürte den Geist des Herrn, der sie tröstete und ihr zu der Einstellung verhalf: „Dein Wille geschehe.“ Dieses heilige Erlebnis konnte sie nicht leugnen. „Ich weiß ohne Zweifel, dass das Leben weitergeht“, bezeugte sie, „und dass die Familienbande in alle Ewigkeit fortdauern.“19

Weniger als zwei Jahre nach Williams Tod wurde Armenia als Präsidentin der GFV Junger Damen im Pfahl berufen.20 Damals befand sich diese Vereinigung für Mädchen ab vierzehn gerade im Umbruch. Ein paar Monate vor Armenias Berufung hatte ein Pfahl in Salt Lake City das erste Sommerlager für Mädchen in der Kirche organisiert. Wie die GFV Junger Männer sah nunmehr auch die GFV Junger Damen in Freizeitaktivitäten ein Mittel, den Charakter der Jugendlichen zu bilden. Zunächst zogen die Leiterinnen der Jungen Damen in Erwägung, sich einer externen Organisation für Mädchen anzuschließen – so wie etwa die GFV Junger Männer das Pfadfinderwesen in ihr Programm aufgenommen hatte. Doch Martha Tingey, die Präsidentin der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen der Kirche, und ihr Ausschuss wollten lieber ein eigenes Programm auf die Beine stellen.21

Marthas Ratgeberin Ruth May Fox hatte bereits einen Namen vorgeschlagen: Bienenkorbmädchen. Für die Heiligen in Utah stand der Bienenkorb schon seit langem für fleißige Arbeit und Zusammenhalt. Aber erst als Elen Wallace aus dem Ausschuss ein Buch mit dem Titel „Das Leben der Bienen“ gelesen hatte, in dem beschrieben wurde, wie die Bienen in Gemeinschaftsarbeit einen Bienenstock anlegen, erkannten die Leiterinnen, wie passend dieses Symbol für ihre Organisation war.

Bald darauf wurden die Mädchen in der gesamten Kirche unter der Leitung einer „Bienenhüterin“ in „Schwärme“ organisiert. Um im Programm aufzusteigen – von der „Erbauerin des Bienenstocks“ über die „Sammlerin des Honigs“ bis hin zur „Bienenhüterin“ –, verdienten sich die Mädchen Auszeichnungen in den Bereichen Religion, Familie, Gesundheit, Hauswirtschaft, Freizeitgestaltung in der Natur, Wirtschaft und Dienst an der Allgemeinheit.22

Armenia und ihre Ratgeberinnen rührten ab dem Sommer 1915 die Werbetrommel für das Programm der Bienenkorbmädchen, und bald darauf gründeten auch die Gemeinden in Cardston „Schwärme“ von jeweils acht bis zwölf Mädchen. Ein Jahr später sprach Armenia zu den Bienenkorbmädchen und den Jungen Männern im Pfahl über die Bedeutung der Tempelarbeit. Der Tempel in Cardston befand sich im Bau, und jeder Jugendliche würde später die Möglichkeit haben, Tempelarbeit zu verrichten. Diese Arbeit sei ein Vorrecht, erklärte sie den jungen Leuten.23

Sechs Jahre später war der Tempel fast fertig und stand kurz vor der Weihung. Der weiße Granitbau auf einem Hügel im Stadtzentrum hatte ein pyramidenförmiges Dach und rundherum Reihen viereckiger Säulen. Wie der Hawaii-Tempel hatte auch er keine Türme, die in den Himmel ragten. Er ruhte quadratisch und erhaben auf seinem Fundament und wirkte so solide und unverrückbar wie ein Berg.24


Elder John Widtsoe griff nach seiner Umhängetasche, als er am Bahnhof Waterloo in London aus dem Zug stieg. Es war um die Mittagszeit des 11. Juli 1923, und der Bahnhof war überfüllt und unerträglich heiß.25

John war mit seinem Mitapostel Reed Smoot nach Europa gekommen. Nach dem Krieg waren die skandinavischen Länder nur zögerlich bereit, wieder Missionare ins Land zu lassen, und Präsident Grant hatte Reed gebeten, seine Stellung als Abgeordneter im Senat der Vereinigten Staaten in die Waagschale zu werfen und sich im Namen der Kirche bei den Regierungen von Dänemark, Schweden und Norwegen für die Missionsarbeit einzusetzen. Und da John Norweger war und mehrere europäische Sprachen beherrschte, wurde er berufen, Reed auf dieser Mission zu begleiten.26

Als John den Bahnsteig entlangmarschierte, hörte er eine vertraute Stimme rufen: „Da ist er ja!“ Und dann musste er erst mal gehörig nach Atem ringen, denn sein zwanzigjähriger Sohn Marsel umarmte ihn lang und fest.27

Marsel diente seit einem Jahr in der Britischen Mission und brachte nun seinen Vater und Senator Smoot zum Hotel. Marsel war schon immer ein guter Schüler und Sportler gewesen, aber John fand, dass ihn die Mission nochmals zu seinem Vorteil verändert hatte. „Nichts geht ihm über seine Arbeit“, schrieb John in der Folge an seine Frau Leah. „Alles in allem war mir seine Gegenwart über die Maßen lieb – so ein gesunder, tiefschürfender, kluger, liebevoller, ehrgeiziger Junge, der aus seinem Leben das Beste machen will.“28

Nachdem John und Reed ein paar Tage in England verbracht hatten, reisten sie mit David O. McKay, der etwa ein Jahr nach der Rückkehr von seiner Weltreise zum Präsidenten der Europäischen Mission berufen worden war, weiter nach Skandinavien. Wie so oft waren es hauptsächlich Fehlinformationen über die Kirche, die die Regierungen zu den Einschränkungen in Bezug auf die Missionsarbeit veranlasst hatten.

In Dänemark, wo sie zuerst Halt machten, stellte sich Reed dem Reporter einer großen Zeitung für ein Interview zur Verfügung. Auch die Treffen in den übrigen Ländern, so etwa eine Audienz beim evangelisch-lutherischen Erzbischof von Schweden oder beim König von Norwegen, waren von Erfolg gekrönt. John schrieb die Erfolge Reeds Ansehen zu. Zwanzig Jahre nach seiner umstrittenen Wahl war der Senator zu einem einflussreichen Parlamentarier geworden, der mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten eine enge Freundschaft pflegte.29

Am Ende ihres Auftrags berichtete John der Ersten Präsidentschaft, dass er und Reed für die Kirche ein gutes Wort einlegen konnten und viele europäische Politiker davon überzeugt hatten, dass die dort geltenden Regeln, was die Missionsarbeit betraf, überholt waren.30 Doch die Reise hatte John auch nachdenklich gestimmt. Nach einem anstrengenden Treffen kam John bei der Bronzestatue von Jöns Jacob Berzelius vorbei, einem berühmten schwedischen Chemiker, den er bewunderte.

Als John so neben der Statue saß, überlegte er, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn auch er sich ganz der Wissenschaft verschrieben hätte, anstatt nach Utah zurückzukehren, das Bildungsprogramm der Heiligen anzukurbeln und in der Kirche zu dienen. „Wie sehr hätte ich ein Leben wie das von Berzelius genossen“, schrieb er Leah später am Abend, „denn ich weiß, dass ich mit Gottes Hilfe sehr erfolgreich gewesen wäre.“

Stattdessen hatte John seinen Beruf und einen Großteil seiner wissenschaftlichen Forschungen an den Nagel gehängt, um stattdessen als Apostel Jesu Christi zu dienen. Dennoch bereute er seinen neuen Lebensweg nicht, auch wenn es ihn traurig stimmte, alte Träume endgültig begraben zu müssen.

„Ich kann hier nicht darüber sprechen, was mir so durch den Kopf geht“, erzählte er Leah. „Nur die Verheißung auf ein Leben im Jenseits kann so manches wettmachen.“31


Am 25. August 1923, nicht lange nachdem die beiden Apostel von ihrer Mission in Skandinavien zurückgekehrt waren, traf in Kanada zur Weihung des Cardston-Tempels in Alberta ein Sonderzug mit Heber J. Grant, neun Aposteln und hunderten von Heiligen aus Salt Lake City und anderen Orten ein. Der Besucherandrang war so groß, dass die Stadt gleichsam aus allen Nähten platzte. Doch die kanadischen Mitglieder scheuten keine Mühe, um all ihre Gäste zu beherbergen.32

Trotz des Trubels hatte Armenia Lee dort auch ein Gespräch mit Apostel George F. Richards und ihrem langjährigen Pfahlpräsidenten, Edward J. Wood, der als Präsident des neuen Tempels berufen worden war. Armenia und Edward waren schon viele Jahre lang gute Freunde. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich oft an ihn gewandt, um sich Rat und Hilfe zu holen. Sie hatten im Pfahl zusammengearbeitet, und Edward war für sie wie ein Bruder geworden.

Gleich zu Beginn des Gesprächs fragte Elder Richards Armenia, ob sie bereit sei, im neuen Tempel als Oberin zu dienen. Sollte Armenia diese Stelle annehmen, so müsste sie Tempelarbeiterinnen auswählen und beaufsichtigen, Frauen beraten, die zum ersten Mal die heiligen Handlungen empfingen, und eine Vielzahl weiterer Aufgaben erledigen.

Armenia war von der Berufung verblüfft und geehrt zugleich. „Ich werde die Aufgabe in aller Demut annehmen und mein Bestes geben“, versicherte sie.33

Am folgenden Tag setzte Anthony Ivins von der Ersten Präsidentschaft Armenia im Tempel ein. Um zehn Uhr morgens nahm sie an der ersten Weihungsversammlung teil. Präsident Grant sprach das Weihungsgebet, während er im celestialen Saal an einem Altar kniete. Er bat Gott, den Tempel zu heiligen und diejenigen zu segnen, auf deren Leben sich der Tempel auswirke. Er rief auch einen besonderen Segen auf die jungen Menschen der Kirche herab, die Armenia so sehr am Herzen lagen.

„Bewahre die Jugend deines Volkes, o Vater, auf dem engen und schmalen Pfad, der zu dir führt“, betete er. „Gib ihnen ein Zeugnis von der Erhabenheit dieses Werkes, wie du es uns gegeben hast, und bewahre sie in Reinheit und in der Wahrheit.“34

Kurze Zeit später wurde der Tempel erstmals für die heiligen Handlungen geöffnet. In den letzten paar Jahren hatte Präsident Grant nach Möglichkeiten gesucht, die Anwesenheit im Tempel zu steigern. 1922 hatte er einige Apostel in ein Komitee berufen und ihnen den Auftrag erteilt, zu untersuchen, wie sich die bis zu viereinhalb Stunden dauernden Endowment-Sessionen verkürzen ließen. Nun wurden im Tempel mehrere Sessionen pro Tag abgehalten. Außerdem wurden Sessionen am Abend angeboten, damit auch Heilige teilnehmen konnten, denen es tagsüber nicht möglich war. Die Führer der Kirche setzten auch der Praxis ein Ende, dass die Heiligen zum Tempel kamen, um dort durch die Taufe oder einen Segen geheilt zu werden, da sie der Ansicht waren, dies lenke von den eigentlichen heiligen Handlungen des Tempels ab.35

Eine unerwartete Änderung war die Anpassung des Garments. Das bisher übliche Muster reichte bis zu den Knöcheln und Handgelenken und hatte Schnüre und einen Kragen und war für die Kleidung, die in den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts getragen wurde, denkbar schlecht geeignet. Die Erste Präsidentschaft erkannte, dass die Symbolik des Gewandes wichtiger war als der Stil, und gab ein kürzeres und einfacheres Garment in Auftrag.36

Da Armenias Pflichten als Oberin einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch nahmen, wurde sie als Präsidentin der GFV Junger Damen im Pfahl entlassen. Ihre Zeit bei den Jungen Damen war jedoch ein wesentlicher Lebensabschnitt gewesen, und sie vermisste die Arbeit mit den Mädchen. Doch sie fand neue Freude daran, die jungen Frauen zu begrüßen, die sie von der GFV her kannte, wenn diese dann zum Tempel kamen, um ihr Endowment zu empfangen und für Zeit und Ewigkeit an ihren Ehemann gesiegelt zu werden.37

Auf Einladung der Redakteurinnen des Young Woman’s Journal verfasste Armenia einen Beitrag für die Zeitschrift und brachte ihre Gedanken anlässlich ihrer Entlassung nach dem jahrelangen Dienst in der GFV Junger Damen zum Ausdruck. „Wie sehr ich doch die Jugend Zions liebe!“, schrieb sie. „Ich wünsche mir keinen größeren Lohn als den, der mir ohnehin zuteilgeworden ist, nämlich zu sehen, wie unsere Mädchen heranwachsen und sich zur Frau entwickeln und ihrem Erbe treu bleiben.“38