„Hellere und bessere Tage“, Kapitel 1 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 1: Hellere und bessere Tage
Kapitel 1
Hellere und bessere Tage
Evan Stephens und dem Tabernakelchor bot sich fürwahr die Chance ihres Lebens! In Chicago, jener boomenden Metropole im mittleren Westen der Vereinigten Staaten, war im Mai 1893 anlässlich des vierhundertsten Jahrestages der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus die Weltausstellung eröffnet worden. Bestimmt würden Millionen Menschen aus aller Welt in den nächsten sechs Monaten die Weltausstellung besuchen. Weit mehr als zwei Quadratkilometer Ausstellungsfläche gab es dort zu erkunden – Parklandschaften samt ausgedehnten Rasenflächen, sich im Sonnenlicht spiegelnde Teichanlagen und Kanäle sowie weitläufige elfenbeinfarbene Paläste, die im Licht glitzerten. Wohin auch immer sich der Besucher wandte, erklangen herrliche Konzerte, lockten ihn verführerische Wohlgerüche und luden ihn beeindruckende Ausstellungen von einer der sechsundvierzig teilnehmenden Nationen zum Verweilen ein.
Wer alle Welt auf sich aufmerksam machen wollte, der konnte – das wusste Evan sehr wohl – keinen passenderen Rahmen finden als ebendiese Weltausstellung.1
Als Dirigent des Tabernakelchors wollte er eigentlich liebend gern beim Grand International Eisteddfod auftreten, jenem prestigeträchtigen walisischen Gesangswettbewerb, der im Herbst auf der Messe stattfinden sollte, denn er und auch viele andere Chormitglieder waren Waliser oder zumindest walisischer Abstammung und waren mit den musikalischen Traditionen ihrer Heimat aufgewachsen. Dieser Wettbewerb war aber noch weit mehr als die Möglichkeit, ihr gesangliches Erbe zu pflegen. Ein Auftritt in Chicago würde dem Tabernakelchor, der ja immerhin die führende Gesangsgruppe der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage war, die perfekte Gelegenheit bieten, erstens sein Talent zu zeigen und zweitens mehr Menschen mit der Kirche bekanntzumachen.2
Immerhin hatten Fehlinformationen über die Heiligen die Kirche schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht und zu Konflikten mit Ortsansässigen geführt. Erst ein halbes Jahrhundert zuvor waren die Heiligen ins Salzseetal geflüchtet, wo sie fern von ihren Bedrängern waren. Doch der Friede war nur von kurzer Dauer gewesen – besonders nachdem die Heiligen begonnen hatten, offen die Mehrehe zu praktizieren. In den folgenden Jahrzehnten führte die Regierung der Vereinigten Staaten einen unerbittlichen Kampf gegen die Mehrehe, und Kritiker der Kirche setzten alle Mittel ein, um den guten Namen der Heiligen in der Öffentlichkeit in den Schmutz zu ziehen und die Heiligen als primitives, unaufgeklärtes Volk darzustellen.
Im Jahr 1890 gab Wilford Woodruff, der damalige Präsident der Kirche, das Manifest heraus, eine offizielle Stellungnahme, mit der die Mehrehe unter den Heiligen für beendet erklärt wurde. Ab diesem Zeitpunkt lockerte die Bundesregierung den Druck auf die Kirche. Doch die Beziehungen besserten sich nur langsam, und so manches Missverständnis blieb bestehen. Um die Jahrhundertwende wollten die Heiligen der Welt nunmehr ein stimmigeres Bild davon vermitteln, wer sie waren und woran sie glaubten.3
So sehr Evan auch darauf erpicht war, auf der Weltausstellung mit seinem Chor die Kirche zu repräsentieren, hätte er diese Gelegenheit doch um ein Haar fast ausschlagen müssen. In den Vereinigten Staaten war gerade eine Finanzkrise ausgebrochen, die auch Utahs Wirtschaft lahmlegte. Viele Chormitglieder waren wenig begütert, und Evan wollte keineswegs, dass sie mit ihrem spärlichen Einkommen auch noch die Fahrtkosten bestreiten mussten. Zudem plagte ihn die Sorge, der Chor sei für den Wettbewerb noch nicht gut genug. Zwar hatten sie vor kurzem bei der Weihung des Salt-Lake-Tempels wie Engel gesungen, doch letztlich war der Tabernakelchor ein Amateurchor. Erreichten sie das Niveau der anderen Chöre nicht, so könnte das für die Kirche peinlich sein.4
Anfang des Jahres hatten Evan und die Erste Präsidentschaft eigentlich schon festgelegt, dass sie nicht an dem Wettbewerb teilnehmen werden. Doch dann hatten die Veranstalter des Eisteddfod-Wettbewerbs Vertreter nach Salt Lake City geschickt, und diese hatten den Chor singen gehört und teilten George Q. Cannon, dem Ersten Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, infolgedessen mit, dass die Heiligen den Wettbewerb wahrscheinlich sogar gewinnen könnten.
Präsident Cannon wandte sich an Evan und fragte: „Meinst du, dass unser Chor eine echte Chance hat?“
„Ich glaube nicht, dass wir gewinnen können“, erwiderte Evan, „aber wir können zumindest einen guten Eindruck hinterlassen.“5
In den Augen von Präsident Cannon genügte das. Andere Heilige, die ebenfalls hofften, die Kirche bei der Weltausstellung würdig zu vertreten, waren bereits nach Chicago aufgebrochen. Führerinnen aus der Frauenhilfsvereinigung und der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen sollten dort vor dem Weltkongress von Frauenvertreterinnen sprechen, der größten Versammlung führender Frauen, die bis dato je abgehalten worden war. B. H. Roberts, einer der sieben Präsidenten der Siebziger, erhoffte sich, beim Parlament der Weltreligionen, das auf der Weltausstellung tagte, die Kirche vorstellen zu dürfen.
Auf die Bitte der Ersten Präsidentschaft hin begann der Chor nun sogleich mit den Proben und suchte eilends eine Möglichkeit, die Fahrt zu finanzieren. Evan musste das Unmögliche schaffen und hatte dafür gerade mal knapp drei Monate Zeit.6
Im Frühjahr bedrohte die Wirtschaftskrise, die auch dem Tabernakelchor zu schaffen machte, die gesamte Kirche mit dem finanziellen Ruin.
Sechs Jahre zuvor hatte der Kongress der Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt seines Feldzugs gegen die Mehrehe das Edmunds-Tucker-Gesetz verabschiedet, das die Beschlagnahmung von Kircheneigentum vorsah. Aus Sorge, die Regierung werde ihre Spenden beschlagnahmen, hatten damals viele Heilige aufgehört, den Zehnten zu zahlen, wodurch sich die Haupteinkommensquelle der Kirche drastisch reduziert hatte. Um Verluste abzudecken, hatte die Kirche Geld aufgenommen und in geschäftliche Unternehmungen investiert. Damit wollte sie die Mittel sicherstellen, um das Werk des Herrn weiter voranzubringen. Auch für die Kosten der Fertigstellung des Salt-Lake-Tempels nahm die Kirche ein Darlehen auf.7
Am 10. Mai 1893 bat die Erste Präsidentschaft Apostel Heber J. Grant, sich unverzüglich in die Oststaaten zu begeben und dort neue Darlehen auszuhandeln, die den finanziellen Engpass der Kirche überbrücken sollten. In Utah kam es nämlich zu einem Zusammenbruch der Banken, und die Preise für landwirtschaftliche Produkte fielen ins Bodenlose. Bald würde die Kirche nicht mehr in der Lage sein, ihren Sekretären, Angestellten und weiteren Mitarbeitern den Lohn auszuzahlen.8 Heber war ja in Salt Lake City Vorsitzender einer Bank und hatte in der Finanzbranche viele gute Bekannte. Daher hofften die führenden Brüder, es werde ihm gelingen, für die Kirche Geld aufzutreiben.9
Heber erklärte sich bereit, die Reise anzutreten, und erhielt von Präsident Cannon einen Segen, in dem ihm verheißen wurde, dass ihm Engel zur Seite stehen werden. Heber bestieg einen Zug an die Ostküste, bedrückt von dem Gefühl, dass auf seinen Schultern die gesamte Last der Kirche ruhte. Hätte er keinen Erfolg, könnte die Kirche ihre Kredite nicht mehr bedienen, würde das Vertrauen ihrer Gläubiger verlieren und wäre dann nicht mehr in der Lage, sich weiteres Geld zu leihen, was aber für die tagtäglichen Aufwendungen unabdingbar war.10
Gleich nach seiner Ankunft in der Finanzmetropole New York gelang es Heber, einige Kredite zu verlängern, und er erhielt auch eine zusätzliche Anleihe über 25.000 Dollar. In der Folge nahm er noch ein weiteres Darlehen auf und sicherte der Kirche schließlich weitere 50.000 Dollar. Doch das alles reichte nicht aus, um die Kirche finanziell über Wasser zu halten.11
Die Tage vergingen, ohne dass es ihm gelang, noch weitere Kreditgeber zu finden, denn die Krise hatte alle in tiefe Verunsicherung gestürzt. Niemand wollte einer Institution, die bereits hoch verschuldet war, noch Geld leihen.
Heber verbrachte eine schlaflose Nacht nach der anderen. Er machte sich schon Sorgen um seine Gesundheit und fürchtete, er werde körperlich gar nicht mehr imstande sein, den Auftrag zu Ende zu führen. „Ich bin fast zwei Meter groß und wiege nur noch dreiundsechzig Kilo“, notierte er in seinem Tagebuch. „Viel ist also nicht da, von dem ich noch zehren könnte.“12
Am 19. Mai war Emmeline Wells schon seit dem Aufstehen ziemlich nervös, denn um zehn Uhr sollten sie und weitere Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung dem Weltkongress von Frauenvertreterinnen, der auf der Weltausstellung in Chicago tagte, ihre Organisation vorstellen.13
Sie hoffte, mit diesen Reden einige der bösartigen Klischees, die über die Frauen in der Kirche im Umlauf waren, ausmerzen zu können. Da ja die meisten der zweihunderttausend Mitglieder der Kirche im amerikanischen Westen lebten, hatten nur wenige Menschen jemals tatsächlich eine Heilige der Letzten Tage kennengelernt. Was man über sie wusste, stammte zumeist aus Büchern, Zeitschriften oder Schmähschriften, die Fehlinformationen über die Kirche verbreiteten und die Frauen als rückständig und unterdrückt darstellten.14
Um zehn Uhr waren nicht alle der achthundert Plätze im Saal belegt. Die Veranstaltung der Frauenhilfsvereinigung war zwar gut beworben worden, doch zeitgleich fanden auch weitere interessante Veranstaltungen statt, die Leute abzogen, die andernfalls vielleicht gekommen wären, um die Frauen aus Utah sprechen zu hören. Emmeline erkannte einige Gesichter im Publikum – viele von ihnen Heilige, die zur Unterstützung gekommen waren. Eine weitere maßgebliche Zuhörerin, die keine Heilige der Letzten Tage war, erkannte sie allerdings, nämlich die Reporterin Etta Gilchrist.15
Zehn Jahre zuvor hatte Etta einen Roman geschrieben, in dem sie die Mehrehe und die Heiligen scharf verurteilt hatte. Doch in der Zwischenzeit hatten sie und Emmeline sich zu einem gemeinsamen Anliegen zusammengefunden. Da sie beide für das Frauenwahlrecht eintraten, hatte sich Emmeline dazu veranlasst gesehen, im Woman’s Exponent, einer Frauenzeitung, die Emmeline in Utah herausgab, einen von Ettas Artikeln zum Wahlrecht zu veröffentlichen. Ein positiver Bericht über die Veranstaltung von Etta würde dem Ruf der Heiligen sicherlich förderlich sein.16
Eröffnet wurde die Konferenz mit einer Darbietung des Liedes „O mein Vater“ von Eliza R. Snow. Zina Young, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, hielt ebenso wie weitere Frauen in Führungspositionen eine kurze Rede über die Arbeit der FHV und die Geschichte der Kirche. Unter den Rednerinnen waren sowohl Frauen, die als Pionierinnen nach Utah gekommen waren, als auch solche, die im Territorium Utah zur Welt gekommen waren. Emmeline hob in ihrer Rede die geschliffene Ausdrucksweise der schriftstellerisch tätigen Frauen in Utah hervor und schilderte die langjährige Erfahrung der Frauenhilfsvereinigung mit der Lagerung von Getreide.
„Falls es also je zu einer Hungersnot kommt“, sagte sie den Zuhörerinnen, „dann kommen Sie doch einfach nach Zion!“17
Gegen Ende der Veranstaltung bat Emmeline noch Etta zu sich aufs Podium. Etta kam nach vorne und setzte sich neben Zina. Sie schüttelte jeder der Frauen aus Utah die Hand, davon angetan, dass diese ihr so freundlich begegneten, wo sie sie doch in der Vergangenheit schlechtgemacht hatte.
Ettas Bericht über die Veranstaltung der FHV erschien ein paar Tage später in der Zeitung. „Die Mormonen sind offenbar ein sehr religiös gesinntes Volk“, schrieb sie. „Der Glaube an ihre Religion ist in der Tat bewundernswert.“
Sie beschrieb den netten Empfang durch die Heiligen und fügte hinzu: „Diese eine Veranstaltung war mir die Reise nach Chicago wert.“
Emmeline war dankbar für das Kompliment.18
Als in Utah nun Banken und Geschäfte in die Insolvenz schlitterten, machte sich die neunzehnjährige Leah Dunford um ihre Familie Sorgen. Sie waren nicht gerade als wohlhabend zu bezeichnen, und Leahs Mutter Susa Gates, eine Tochter von Brigham Young, hatte soeben ein wertvolles Stück Land verkauft, damit Leah an der Harvard-Universität in Cambridge in Massachusetts einen Sommerstudienlehrgang zum Thema Gesundheit und Leistungsfähigkeit belegen könne. Leah war sich nicht sicher, ob sie überhaupt hinfahren sollte. War es denn richtig, so fragte sie sich, aus dem Opfer ihrer Mutter derart Gewinn zu schlagen?19
Susa wollte jedoch unbedingt, dass Leah den Sommerstudienlehrgang besuche – koste es, was es wolle. Damals war es üblich, dass viele junge Heilige der Letzten Tage aus Utah an einer der angesehenen Universitäten im Osten der Vereinigten Staaten studierten. Susa hatte selbst im Jahr zuvor einen Sommerstudienlehrgang besucht und hoffte nun, ihrer Tochter werde ein ähnlich schönes Erlebnis beschert sein. Nebenher war sie auch der Ansicht, einer der Studenten, den sie dort kennengelernt hatte – ein junger norwegischer Heiliger der Letzten Tage namens John Widtsoe – wäre für Leah der ideale Partner.20
Von den Geldsorgen abgesehen, hatte Leah durchaus den brennenden Wunsch, sich weiterzubilden. Ihre Mutter war der Ansicht, eine junge Heilige der Letzten Tage bedürfe jedenfalls einer guten Allgemeinbildung und einer Berufsausbildung. Bis vor nicht allzu langer Zeit war ja durch die Mehrehe praktisch jeder Heiligen der Letzten Tage, die das wollte, eine Ehe im Bund möglich gewesen. Leahs Generation war nun die erste, die nach dem Manifest das Erwachsenenalter erreichte, und diese jungen Frauen hatten diese Garantie nicht mehr – noch die Garantie, finanziell versorgt zu werden, wie das die Ehe damals mit sich brachte.21
Obwohl sich die Bildungs- und Karrieremöglichkeiten für Frauen in vielen Teilen der Welt erweitert hatten, standen manche Eltern in der Kirche diesem Angebot doch skeptisch gegenüber, da sie befürchteten, ihre Töchter könnten dazu veranlasst werden, außerhalb der Kirche zu heiraten und ihren Glauben aufzugeben. Aus diesem Grund wurden die Führerinnen der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen auch nicht müde zu betonen, dass sich jede junge Frau ein starkes Zeugnis aneignen und wichtige Entscheidungen gebeterfüllt treffen solle.22
Leah war von ihrer Mutter bereits aufgefordert worden, zu fasten und wegen ihrer Beziehung zu John Widtsoe zu beten. Susas Ehe mit Leahs Vater, der damals Alkoholiker gewesen war, hatte ja mit einer Scheidung geendet, und verständlicherweise wünschte sich Susa, dass ihrer Tochter eine glückliche Ehe mit einem rechtschaffenen jungen Mann beschieden sei. Leah hatte allerdings John noch gar nicht persönlich kennengelernt – bislang hatten sie einander lediglich ein paar Briefe geschrieben.23
Im Juni 1893 legte Leah also mit vier anderen Frauen aus Utah die mehr als dreitausend Kilometer nach Harvard zurück. Sie kamen erst spät am Abend in der Unterkunft an, in der John und die anderen Heiligen der Letzten Tage wohnten, sodass sie gar keine Zeit hatten, die Studenten kennenzulernen. Am nächsten Vormittag bemerkte Leah einen jungen Mann, der in sich gekehrt allein in einer Ecke saß. „Ich nehme mal an, du bist John Widtsoe“, sagte sie zu ihm. „Meine Mutter hat mir von dir erzählt.“
Sie hatte sich John immer als großen, kräftigen Skandinavier vorgestellt, doch er war klein und schmächtig. Was in aller Welt hatte ihre Mutter denn nur in ihm gesehen?
Völlig unbeeindruckt von dem jungen Mann ließ ihn Leah bis zum Abendessen links liegen. Als die Haushälterin dann John bat, das Fleisch zu tranchieren, dachte Leah bei sich: „Wenigstens ist er ein guter Hausmann.“ Nachdem sich alle hingekniet hatten, sprach John das Tischgebet, und seine Worte drangen Leah mitten ins Herz.
„Das ist der Mann“, dachte sie bei sich.24
Von da an waren Leah und John so gut wie unzertrennlich. Eines Nachmittags spazierten sie gemeinsam durch einen Park und blieben auf einem kleinen Hügel mit Blick auf einen Teich stehen. John erzählte Leah dort von seiner Kindheit in Norwegen und seiner Jugend in Logan in Utah.
Bald darauf begann es zu regnen, und so suchten die beiden Schutz in einem nahegelegenen Turm. Dort erzählte Leah dann John aus ihrem Leben. Danach stiegen die beiden ganz auf den Turm hinauf und unterhielten sich oben anderthalb Stunden über ihre Zukunftspläne.25
John Widtsoe war in Leah Dunford verliebt, doch eingestehen wollte er sich das auf keinen Fall. Als sie zu dem Sommerstudienlehrgang kam, wollte er sie anfänglich gar nicht beachten. Er war zu beschäftigt und in dieser Phase seines Lebens auch nicht an einer Beziehung interessiert. Er hatte große Pläne für die Zukunft, und Leah lenkte ihn dabei nur ab!
Aber er mochte es, dass sie mehrere Instrumente spielte und je nach Anlass unbeschwert oder ernsthaft reden konnte. Er mochte es, dass sie der Haushälterin beim Aufräumen half, wenn alle anderen einfach nur müßig dasaßen. Und mehr als alles andere mochte er ihren Ehrgeiz.
„Sie hat den Wunsch, in der Welt etwas zu bewegen“, schrieb er an seine Mutter Anna in Salt Lake City. „Im Bildungswesen wird sie eine der führenden Frauen Utahs werden.“
Laut seinen Berechnungen müsste John wohl noch mindestens zwei oder drei Jahre lang seine Schulden für das Studium an der Harvard-Universität abbezahlen. Anschließend bräuchte er noch vier Jahre für ein Doktoratsstudium in Europa und noch weitere vier Jahre, um auch diese Schulden zu tilgen. Danach bräuchte er mindestens drei weitere Jahre, um genug Geld zusammenzusparen, um eine Heirat mit Leah überhaupt in Betracht ziehen zu können.26
John war auch noch dabei, sich mit seinem Glauben auseinanderzusetzen. Von der Reinheit und Güte Jesu war er überzeugt. In Harvard hatte er auch das starke Zeugnis empfangen, dass Gott ihm bei der Aufnahmeprüfung zur Seite gestanden hatte. Doch was die Kirche betraf, war er sich nicht so sicher. Zu Beginn des Jahres hatte er seiner Mutter in einem Brief Fragen zur Kirche und deren Führern gestellt. Anna war davon derart erschüttert gewesen, dass sie umgehend ein Antwortschreiben abgeschickt hatte, weil sie davon ausging, er habe sein Zeugnis verloren.27
In seinem nächsten Brief hatte John versucht, seine Sicht der Dinge darzustellen. Er hegte, wie damals auch manch anderer junger Heiliger, an manchem so seine Zweifel. Die Führer der Kirche hatten immer wieder betont, dass er in den Letzten Tagen lebe und der Herr sein Volk von dessen Feinden befreien werde. Doch in den vergangenen drei Jahren hatte er miterlebt, wie die Heiligen die Mehrehe aufgaben und sich, was ihre politischen Ansichten betraf, erbittert entzweit hatten. Er zweifelte nun daran, ob es den Heiligen jemals gelingen werde, Zion zu errichten.
„Alles scheint ganz anders gekommen zu sein, als wir es erwartet hatten“, schrieb er seiner Mutter.
In seinen Briefen nach Hause hatte John auch darzulegen versucht, dass es ihm nicht genüge, einfach nur an etwas zu glauben. Er musste auch den Grund dafür verstehen. „Es nützt mir nichts, einfach zu sagen: ‚Ich glaube es‘ und mir darüber nicht weiter den Kopf zu zerbrechen“, hatte er geschrieben. Dessen ungeachtet fuhr er fort, um vermehrtes Verständnis zu beten, was die Lehren der Kirche betraf.28
Am 23. Juli hatte er ein machtvolles, geistiges Erlebnis. Eine Methodistin besuchte den Sonntagsgottesdienst der Studenten, die der Kirche angehörten, und John wurde gebeten, aus dem Stegreif eine Predigt zu halten. Einigermaßen überrumpelt stand er da und wusste zunächst nicht, was er sagen sollte. Rasch entschied er, er werde über das Wesen Gottes sprechen – in der Hoffnung, dass seine Worte der Besucherin den Glauben der Heiligen näherbringen würden. Während er sprach, wurde er nicht nervös und verhaspelte sich auch nicht, wie das mitunter der Fall war, wenn er in der Öffentlichkeit sprechen musste. Nein, er hielt stattdessen mehr als dreißig Minuten lang eine gut strukturierte, erbauliche Predigt.
„Ich spürte, wie mir Gottes Geist beistand“, schrieb er an seine Mutter. „So viel war mir über Gott und seine Eigenschaften an sich gar nicht bekannt.“29
Den Rest des Tages verbrachte John mit Leah. Im Laufe der Unterhaltung sagte John zu ihr, er wolle, dass sie seine Mutter besuche. Er hatte Anna schon so viel von Leah erzählt. Nun wünschte er sich, dass die beiden einander persönlich kennenlernten.30
Als es am 1. September 1893 auf Mitternacht zuging, lag Heber J. Grant noch immer hellwach in seinem Hotelzimmer in New York. Früher am Tag hatte er ein Telegramm erhalten, das ihn in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die Zion’s Savings Bank and Trust Company, das wichtigste Finanzinstitut der Kirche, stand unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit, desgleichen auch die State Bank of Utah, deren Vorsitzender Heber war. Sollte er den Banken am nächsten Tag kein Geld überweisen, könnten sie das Tagesgeschäft nicht aufnehmen. Sowohl Hebers guter Name als auch der Ruf der Kirche wäre bei ihren Gläubigern dann beschädigt – vielleicht für immer.
Heber wälzte sich stundenlang im Bett hin und her. Anfang des Jahres hatte ihm George Q. Cannon verheißen, dass ihm Engel zur Seite stehen würden. Und erst unlängst hatte ihm Joseph F. Smith, der Zweite Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, Erfolg verheißen, der seine Erwartungen übertreffen werde. Aber jetzt konnte sich Heber nicht vorstellen, dass ihm jemand genug Geld leihen würde, um die Banken zu retten.
Er betete um Hilfe und flehte zu Gott, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Gegen drei Uhr am Morgen schlief er schließlich ein und hatte doch noch immer keine Möglichkeit gefunden, wie sich dieses Dilemma lösen ließe.31
Er erwachte erst ungewöhnlich spät. Da es Samstag war, würden die Banken am Mittag schließen, also musste er sich sputen. Er kniete zum Beten nieder und flehte zum Herrn, er möge ihn jemanden finden lassen, der ihm 200.000 Dollar leiht. Er sagte, er sei zu jedem Opfer bereit und wolle dem Kreditgeber für das Darlehen auch eine saftige Provision gewähren.32
Nach dem Gebet fühlte sich Heber beschwingt und war sich sicher, dass der Herr ihm helfen werde. Er wollte John Claflin, den Leiter eines großen Handelsunternehmens, besuchen. John war allerdings nicht in seinem Büro. Da die Zeit allmählich knapp wurde, fuhr Heber mit der Stadtbahn ins Finanzviertel, weil er hoffte, dort noch bei einer zweiten Bank nachfragen zu können. Während der Fahrt war er so sehr in die Zeitung vertieft, dass er seine Haltestelle verpasste. Als er schließlich ausstieg, irrte er eine Zeit lang ziellos hin und her. Er kam am Büro eines anderen Bekannten vorbei und trat dort ein. Drinnen traf er auf John Claflin, genau den Mann, den er eigentlich hatte aufsuchen wollen.
Diesem war Hebers missliche Lage bekannt und er erklärte sich bereit, der Kirche 250.000 Dollar zu leihen – unter der Bedingung, dass er zwanzig Prozent Provision erhalten würde.33 Trotz der hohen Kosten merkte Heber, dass der Herr seine Gebete erhört hatte.34 Er überwies umgehend Geld nach Salt Lake City.
Das Geld kam gerade rechtzeitig an, um die Banken vor dem Konkurs zu bewahren.35
„Schenkt den anderen Chören erst nach eurem Auftritt Beachtung“, riet Evan Stephens den Mitgliedern des Tabernakelchors. „Bleibt ruhig und gelassen!“
Es war der Nachmittag des 8. September. Der Chor hatte die Generalprobe für das Eisteddfod beendet. In wenigen Stunden sollten die Sänger nun die Bühne betreten und die drei Darbietungen zum Besten geben, die sie in diesem Sommer so gut wie jeden Tag einstudiert hatten. Evan war sich immer noch nicht sicher, ob sie gut genug seien, um gewinnen zu können, aber er wäre schon damit zufrieden, dass sie eben ihr Bestes gegeben hatten.36
Der Chor war fünf Tage zuvor in Begleitung der Ersten Präsidentschaft in Chicago angekommen. Um den Regeln für den Wettbewerb zu genügen, hatte Evan den Chor auf zweihundertfünfzig Sängerinnen und Sänger reduziert. Und als die Star-Sopranistin Nellie Pugsley einige Wochen vor dem Konzert ihr Baby bekam und meinte, sie könne keinesfalls bei der Weltausstellung singen, wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen und ihre Schwester kümmerte sich um das Baby, während Nellie ihren Auftritt hatte.37
Die Finanzierung der Reise mitten in der Wirtschaftskrise erwies sich als ebenso schwierig wie die gesangliche Vorbereitung des Chors. Zunächst hatten die Chorleiter versucht, von Geschäftsleuten in Salt Lake City Geld aufzutreiben. Als das nicht geklappt hatte, entschloss sich der Chor zu einer Konzertreihe, um durch den Kartenverkauf die Reisekosten hereinzubekommen. Sie gaben zwei Konzerte in Utah und vier weitere in anderen größeren Städten zwischen Salt Lake City und Chicago.38
Die Konzerte waren ein finanzieller Erfolg, doch für die Stimmen der Sänger waren sie eine Belastung. Der Chor hatte sich in Chicago jedoch weiter eingesungen, und zu den Proben im Utah Building, der großen Ausstellungshalle mit Waren und Kunsthandwerk aus dem Territorium, waren hunderte von Zuhören gekommen.39
Nach der Generalprobe warteten Evan und die Sängerinnen und Sänger im Keller der Konzerthalle, bis sie an die Reihe kamen. John Nuttall, der Sekretär des Chors, sprach ein Gebet und erinnerte die Sängerinnen und Sänger daran, dass sie auf der Weltausstellung die Kirche und deren Mitglieder repräsentierten.
„Gib, dass wir wenigstens deinem Werk und deinem Volk Ehre machen“, betete er, „wenn wir hier vor aller Welt auftreten, wo wir doch im Allgemeinen für rückständig und ungebildet gehalten werden.“40
Als der Chor an der Reihe war, nahm Evan seinen Platz am Dirigentenpult ein. In der Halle saßen an die zehntausend Zuhörer, und fast keiner gehörte der Kirche an. Früher hätten die Heiligen der Letzten Tage damit rechnen müssen, von einem solchen Publikum ausgezischt zu werden, doch hier schlug ihnen keinerlei Feindseligkeit entgegen.
Die Sänger stellten sich auf der Bühne auf, und im Saal kehrte Ruhe ein. Dann sang der Chor aus Händels Oratorium „Der Messias“ die ersten Takte des Liedes „Würdig ist das Lamm“.
Würdig ist das Lamm, das da starb,
und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut,
zu nehmen Stärke und Reichtum und Hoheit und Macht
und Ehre und Weisheit und Segen.
Machtvoll schwangen sich die Stimmen empor – in Evans Ohren klang alles einfach grandios. Als der Chor endete, brandete Beifall auf. Der Chor sang anschließend noch zwei weitere Stücke, und obgleich in so mancher Stimme Müdigkeit mitschwang, machten sie ihre Sache gut und beendeten ihren Auftritt.41
„Wir haben alles gegeben“, sagte Evan hinterher zur Ersten Präsidentschaft. „Ich bin zufrieden.“
Der Tabernakelchor belegte letztendlich den zweiten Platz und lag nur einen halben Punkt hinter dem Sieger des Wettbewerbs. Einer aus der Jury sagte sogar, eigentlich hätten die Heiligen gewinnen sollen. Präsident Cannons Ansicht nach hatte der Chor jedoch etwas weitaus Größeres erreicht. „Von der Missionsarbeit her betrachtet, ist es allemal ein Erfolg“, meinte er, „denn Tausende können dadurch ein wenig mehr Wahrheitsgetreues über uns erfahren.“42
Evan war ebenfalls zufrieden mit dem, was seine Sängerinnen und Sänger geleistet hatten. Die Nachricht, dass der „Mormonenchor“ auf der Weltausstellung einen Preis gewonnen hatte, erschien in Zeitungen auf der ganzen Welt. Einen größeren Erfolg hätte er sich gar nicht wünschen können.43
Am Tag nach dem Konzert sprach Präsident Woodruff anlässlich eines Festessens auf der Weltausstellung über die Heiligen. „Kommen Sie und sehen Sie“, sagte er nachdrücklich. „Wer noch nicht in Salt Lake City gewesen ist, ist jederzeit willkommen.“ Er lud auch Geistliche anderer Glaubensrichtungen ein, in Salt Lake City einen Vortrag zu halten. „Und falls in Ihren Kirchen nicht genug Platz ist“, sagte er, „können Sie gern in unserem Tabernakel sprechen.“44
Der Prophet kehrte zehn Tage später voll Freude über die Zuvorkommenheit, die den Heiligen in Chicago erwiesen worden war, nach Utah zurück. Der einzige Vorfall, der den Erfolg der Kirche auf der Weltausstellung ein wenig trübte, war die Tatsache, dass die Organisatoren des Parlaments der Weltreligionen es B. H. Roberts verwehrt hatten, auf ihrer Versammlung über die Kirche zu sprechen. Dieses Vorgehen war eine traurige Erinnerung daran, dass es immer noch Vorurteile gegen die Kirche gab. Die Führer der Kirche gingen jedoch davon aus, dass die Menschen im ganzen Land allmählich begannen, die Heiligen in einem anderen Licht zu sehen.45 Der Erfolg, der der Frauenhilfsvereinigung und dem Tabernakelchor beschieden war, ließ darauf hoffen, dass die Verfolgungen der letzten sechzig Jahre nunmehr ein Ende finden würden.46
Am 5. Oktober, dem Abend vor der Generalkonferenz, nahmen in einer kleinen Versammlung im Salt-Lake-Tempel die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel gemeinsam vom Abendmahl.
„Ich bin tief davon überzeugt“, sagte George Q. Cannon, „dass für uns nun hellere und bessere Tage anbrechen.“47