„So wir denn bereit sind“, Kapitel 2 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 2: So wir denn bereit sind
Kapitel 2
So wir denn bereit sind
Während den Heiligen in den Vereinigten Staaten vermehrt Wohlwollen entgegengebracht wurde, war im Südwesten Englands ein Missionar namens John James wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Bei einer Versammlung stellte ein Mann die Behauptung auf, die Heiligen in Utah wären allesamt Mörder. Ein andermal meinte jemand, die Missionare kämen nach England, um junge Frauen zuerst zu verführen und dann als Zweit- oder Drittfrau zu entführen. Wieder ein anderer wollte die Menge davon überzeugen, John und seine Mitarbeiter würden nicht an die Bibel glauben – obwohl sie ja gerade in der Versammlung aus der Bibel gepredigt hatten.
Bei einer Versammlung unterbrach ein Mann die Missionare mit den Worten, er sei selbst in Salt Lake City gewesen und habe dort mit eigenen Augen gesehen, wie zweihundert Frauen in einen Schuppen getrieben wurden und sich Brigham Young höchstpersönlich so viele Ehefrauen ausgesucht habe, wie er nur wolle. John, der in Utah geboren und aufgewachsen war, wusste natürlich, dass diese Geschichte völliger Humbug war. Doch seine Richtigstellung wollte keiner hören.
Was diese Kritiker an der Kirche zu bemängeln hatten, stammte in den meisten Fällen – so Johns Vermutung – von William Jarman. William und seine Frau Maria hatten sich in den späten 1860er Jahren in England der Kirche angeschlossen. Kurze Zeit später wanderten sie mit ihren Kindern und Emily Richards, Marias Lehrling in ihrer Damenschneiderei, nach New York aus. Was Maria nicht ahnte, war, dass Emily damals schon von William schwanger war. Schließlich zog die Familie weiter nach Utah, wo William Emily als Zweitfrau heiratete und mit Vorräten, die er offenbar seinem Arbeitgeber in New York gestohlen hatte, einen Handel mit Trockenwaren eröffnete.
Der Alltag in Zion änderte nichts an Williams Gesinnung. Seine Frauen behandelte er schlecht, und sowohl Maria als auch Emily ließen sich von ihm scheiden. Er wurde wegen schweren Diebstahls belangt, weshalb er ins Gefängnis musste, bis das Gericht den Fall letztendlich abwies. Enttäuscht von der Kirche, begann er, seinen Lebensunterhalt mit Vorträgen gegen die Kirche zu verdienen, und kehrte nach England zurück. Oft rührte er die Zuhörer mit einer herzzerreißenden Geschichte zu Tränen, in der er die Heiligen bezichtigte, seinen ältesten Sohn Albert umgebracht zu haben.1
Zu der Zeit, als John James nach Großbritannien kam, hatte William bereits jahrelang von seinen Vortragsreisen gelebt. Er hatte ein Buch herausgegeben, in dem er mit der Kirche abrechnete, und seine Anhänger waren mitunter gewalttätig und griffen die Missionare an. In einer Stadt hatten einige von Williams Anhängern sogar mit Steinen nach den Missionaren geworfen und einen von ihnen am Auge verletzt.2
Ungeachtet aller Gefahr hegte John das große Verlangen, in Großbritannien das Evangelium zu verbreiten. „Wir sind auf viel Widerstand seitens derer gestoßen, die sich auf Jarman berufen“, schrieb er den Missionsleitern. „Meiner Ansicht nach sind wir ihnen jedoch geschickt entgegengetreten und beabsichtigen, weiterhin Versammlungen abzuhalten.“3
„Jarman hält immer noch Vorträge gegen uns und bedient sich dabei der übelsten Ausdrücke“, ließ Apostel Anthon Lund seine Frau Sanie in Utah wissen. Als neu berufener Präsident der Europäischen Mission mit Sitz in Liverpool war sich Anthon der Bedrohung, die William Jarman für das Werk des Herrn darstellte, wohl bewusst. Viele Missionare taten ihn zwar als Spinner ab, doch Anthon hielt ihn für schlau und gerissen und meinte, man solle seine Lügengeschichten nicht unterschätzen.4
Anthon, der sich als Kind in Dänemark der Kirche angeschlossen hatte, wusste, welche Schwierigkeiten es mit sich brachte, in Europa ein Heiliger der Letzten Tage zu sein. Die Heiligen in Utah konnten, so sie auf Widerstand gegen ihren Glauben stießen, wenigstens im Schulterschluss mit anderen treuen Mitgliedern Zuspruch und Unterstützung finden. Doch jenseits des Atlantiks gab es zwischen Westeuropa und der Türkei insgesamt bloß achttausend Heilige der Letzten Tage. Viele davon waren Neubekehrte, die sich in ihren winzigen Zweiggemeinden auf die Vorgaben und die moralische Unterstützung der Missionare verlassen mussten. Wurde dann die Kirche von jemandem wie Jarman angegriffen, waren solche Zweige sehr verwundbar.5
Als Anthon im Sommer und Herbst 1893 Großbritannien, Skandinavien und die Niederlande besucht hatte, hatte er die Schwierigkeiten, vor denen diese Zweige standen, mit eigenen Augen gesehen. Selbst in England, wo die Kirche ja am stärksten war, hatten die Heiligen oft Mühe, sich zusammenzuschließen, weil sie meist zu weit voneinander entfernt lebten. Manchmal stießen die Missionare auf Heilige, die seit zwanzig oder dreißig Jahren keinen Kontakt mehr zur Kirche gehabt hatten.6
Doch auch anderswo in Europa stand Anthon vor ähnlichen Herausforderungen. Es hieß, ein bekannter Prediger wettere in Dänemark gegen die Kirche. In Norwegen und Schweden traf Anthon auf Missionare und Mitglieder, die bisweilen seitens der Behörden schikaniert oder von anderen Glaubensgemeinschaften angefeindet wurden. In den Niederlanden stand den Heiligen außer dem Buch Mormon fast gar keine Literatur der Kirche in der Landessprache zur Verfügung.
Es gab wohl auf dem gesamten Kontinent Heilige, die treu zum Evangelium standen, doch nur wenige Zweige gediehen, und in einigen Gegenden ging die Mitgliederzahl sogar zurück.7
Jahrzehntelang waren die europäischen Heiligen nach Utah ausgewandert, wo die Kirche schon gefestigter war. Aber die Regierung der Vereinigten Staaten hatte in ihrem Bestreben, unter den Heiligen die Mehrehe einzudämmen, in den späten 1880er Jahren den Ständigen Auswanderungsfonds der Kirche aufgelöst, was die Kirche in der Folge daran gehindert hatte, verarmten Heiligen, die nach Utah ziehen wollten, das Geld für die Reise vorzustrecken. In jüngerer Zeit hatte die weltweite Wirtschaftskrise viele Europäer immer tiefer in die Armut getrieben. Einige Heilige, die schon Geld gespart hatten, um auszuwandern, waren gar gezwungen, ihre Pläne aufzugeben.8
Die Einwanderungsbehörde der Vereinigten Staaten war auch streng in der Frage, wer denn nun einwandern dürfe. Da immer noch befürchtet wurde, europäische Mitglieder der Kirche kämen nach Utah, um dort die Mehrehe zu praktizieren, wiesen die Führer der Kirche die Auswanderer an, sich nur in kleinen Grüppchen einzuschiffen, um möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen. Kurz nachdem Anthon in Europa angekommen war, hatte er sich eine Rüge von der Ersten Präsidentschaft eingehandelt, weil er eine Gruppe von 138 Heiligen nach Utah geschickt hatte. „Nie mehr als 50 Auswanderer gleichzeitig!“, mahnten die führenden Brüder.9
Da Anthon weder die Mittel noch das Recht hatte, eine groß angelegte Auswanderungskampagne zu starten, sprach er in der Öffentlichkeit auch nur selten über die Sammlung. Doch privat ermutigte er die Heiligen dennoch, auszuwandern, so sie es sich leisten konnten. Ende November war Anthon wieder nach England zurückgekehrt und hatte dort eine ältere Frau kennengelernt, die genug Geld angespart hatte, um nach Utah reisen zu können. Er riet ihr, sich in Manti niederzulassen, in der Gegend, wo auch seine Familie wohnte.
„Sie könnte im Tempel arbeiten“, dachte er, „und ihren Lebensabend genießen.“10
Leah Dunford war inzwischen wieder in Salt Lake City und schrieb lange Briefe an John Widtsoe, der nach wie vor in Harvard studierte. Wie versprochen, stattete sie auch seiner Mutter Anna, eine vierundvierzigjährige Witwe, die südlich des Salt-Lake-Tempels lebte, einen Besuch ab. Anna zeigte ihr ein Bücherregal, das John angefertigt hatte. Überrascht vom tischlerischen Geschick des Studenten meinte Leah: „Jetzt habe ich also etwas, womit ich John necken kann.“
„Ach“, sagte Anna, „ihr steht also in Briefkontakt?“
„Ja“, entgegnete Leah und befürchtete plötzlich, dass Anna etwas dagegen haben könne. Doch Anna meinte nur, sie sei froh, dass John mit einem so netten Mädchen wie Leah Freundschaft geschlossen habe.11
Nachdem Leah ihren Studienlehrgang im Fachbereich Gesundheit und Leistungsfähigkeit abgeschlossen hatte, zog sie in Erwägung, ihre Ausbildung an einer Universität im Mittleren Westen fortzusetzen. Ihre Mutter hatte jedoch mit Joseph F. Smith und George Q. Cannon Rücksprache gehalten und hielt es nicht für weise, ihre Tochter ganz allein an einen Ort zu schicken, wo die Kirche nicht vertreten war.
Leah war enttäuscht, schrieb sich jedoch stattdessen an einem von der Kirche geführten College in Salt Lake City ein und besuchte dort in Naturwissenschaften und Chemie die Vorlesungen von James E. Talmage, dem Präsidenten des College und zugleich dem angesehensten Wissenschaftler der Kirche. Obwohl Leah ihr Studium genoss und von ihren Professoren viel lernte, beneidete sie doch John um seine Möglichkeiten an der Harvard-Universität.
„Ich wünschte, ich wäre ein Mann“, schrieb sie ihm. „Männer können einfach alles machen, aber wenn sich eine Frau etwas anderes in den Kopf setzt, als den Mann zu bedienen und für ihn zu kochen, heißt es gleich, sie kenne ihren Platz nicht.“
Sie wurde voll und ganz von Professor Talmage unterstützt, der Leah sagte, er wünsche sich, mehr junge Frauen würden eine Lehrtätigkeit an einer der Bildungseinrichtungen der Kirche anstreben. Auch John war bereit, Leah zu unterstützen. „Dein Vorsatz, dich dem Wohl anderer zu widmen, kann gar nicht hoch genug bewertet werden“, schrieb er ihr. „Ich werde dich durch Glauben und Gebet so gut unterstützen, wie ich nur irgend kann.“12
Eines Sonntags im Dezember 1893 kam Anna Widtsoe zu Leah zu Besuch. Sie erzählte ihr von ihrer Bekehrung in Norwegen und ihren ersten Schritten in der Kirche. „Es war so ein angenehmes Gespräch“, berichtete Leah später John. „Ich fühle mich so egoistisch und unwürdig, wenn ich höre, wie viel manche für ihre Religion opfern.“
Leah beklagte, Heilige ihres Alters wären oft mehr daran interessiert, Geld zu verdienen, als auf geistigem Gebiet Fortschritt zu machen. Um die heranwachsende Generation zu stärken, hatte die Kirche in den 1870er Jahren die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung für Junge Damen und für Junge Männer ins Leben gerufen. Für gewöhnlich trafen sich die jungen Leute an einem Abend pro Woche und befassten sich mit dem Evangelium, entwickelten ihre Talente, lernten gutes Benehmen und verbrachten einfach Zeit miteinander. Auch zwei Zeitschriften wurden herausgegeben, das Young Woman’s Journal und der Contributor, außerdem Leitfäden für die Jugendführer, anhand derer sie Lektionen über die heiligen Schriften, die Geschichte der Kirche sowie Gesundheit, Wissenschaft und Literatur vorbereiten konnten.13
Die jungen Männer konnten auch auf den Missionsdienst hinarbeiten, der ihnen helfen sollte, geistig zu wachsen. Doch diese Möglichkeit war den Frauen offiziell ja verwehrt. Junge Frauen konnten zwar durch die Mitgliedschaft in der Frauenhilfsvereinigung in ihrem Umfeld Dienst am Nächsten leisten, doch Leahs Generation neigte dazu, die FHV eher als altmodische Organisation für ihre Mütter zu betrachten. Um geistig gewappnet zu bleiben, besuchte Leah für gewöhnlich den Gottesdienst, fastete regelmäßig und suchte nach weiteren Möglichkeiten, sich ins Evangelium zu vertiefen.
Am Silvesterabend besuchte Leah in Provo ein Treffen mit den Mädchen aus der Sonntagsschulklasse ihrer Mutter. Zina Young und Mary Isabella Horne, die beide schon in Nauvoo der Frauenhilfsvereinigung angehört hatten, waren eingeladen und erzählten der Klasse von den Anfängen der Kirche und der prophetischen Berufung Joseph Smiths.
„Es war ein geistiger Festschmaus“, erzählte Leah später John. Die anwesenden Mädchen gaben reihum Zeugnis. „Es war das erste Mal, dass ich Zeugnis abgelegt und mich öffentlich zu einem religiösen Thema geäußert habe“, schrieb sie. „Wir haben das Ganze sehr genossen.“14
Am ersten Tag des Jahres 1894 erwachte George Q. Cannon voller Dankbarkeit gegenüber dem Herrn für das Wohlergehen seiner Familie. „Wir haben zu essen, etwas anzuziehen und ein Dach über dem Kopf“, schrieb er in sein Tagebuch. „Unser Zuhause ist gemütlich, und was unser körperliches Wohlbefinden angeht, so mangelt es uns an nichts.“15
Das vergangene Jahr war für die Kirche ein gutes gewesen. Die Heiligen hatten den Salt-Lake-Tempel geweiht, sowohl die Frauenhilfsvereinigung als auch der Tabernakelchor hatten auf der Weltausstellung in Chicago ein gutes Bild abgegeben, und die Kirche war dem finanziellen Ruin gerade noch entgangen. Ende Dezember hatte das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten zudem bewilligt, dass das Territorium Utah den Antrag auf die Aufnahme in den Staatenbund der Vereinigten Staaten stellen dürfe, wodurch die Heiligen einem Ziel, das sie bereits seit 1849 verfolgt hatten, wieder einen Schritt nähergekommen waren.
„Wer hätte sich je getraut, so etwas für Utah vorherzusagen?“, hatte George in sein Tagebuch geschrieben. „Allein die Macht des Allmächtigen hat so etwas bewirken können.“16
Doch Anfang des neuen Jahres standen George und weitere Führer der Kirche vor einem neuen Problem. Am 12. Januar gab die Regierung der Vereinigten Staaten der Kirche insgesamt etwa 438.000 Dollar von dem zurück, was sie unter dem Edmunds-Tucker-Gesetz beschlagnahmt hatte. Leider reichten diese Mittel nicht für die Tilgung der ausstehenden Kredite aus. Und so dankbar die Führer der Kirche auch für das Geld waren, so schien es ihnen doch, als habe die Regierung nur weniger als die Hälfte dessen zurückgegeben, was sie den Heiligen zuvor genommen hatte.17
Da das Geld also immer noch knapp war, nahm die Erste Präsidentschaft weiterhin Kredite auf, um den laufenden Betrieb der Kirche zu sichern. In der Hoffnung, Arbeitsplätze zu sichern und Einnahmen in das Territorium zu bringen, investierte die Kirche auch in mehrere Unternehmungen vor Ort. Durch einige Investitionen wurden tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen, doch andere Unternehmungen entpuppten sich als Fehlschläge, was die Schulden der Kirche weiter ansteigen ließ.18
Anfang März wandte sich Lorenzo Snow in seiner Eigenschaft als Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel ratsuchend an die Erste Präsidentschaft. Er wollte wissen, wie er denn für seine unmittelbaren Vorfahren die Tempelarbeit durchführen solle. Vor allem interessierte ihn das Thema, Kinder an Eltern zu siegeln, die zu ihren Lebzeiten nicht das Evangelium angenommen hatten.19
Die ersten Siegelungen von Kindern an ihre Eltern waren in Nauvoo vollzogen worden. Damals wollten allerdings etliche Heilige, deren Eltern nicht der Kirche angehörten, stattdessen lieber zur Adoption an einen Führer der Kirche gesiegelt werden. Sie nahmen an, das würde ihnen einen Platz in einer ewigen Familie sichern und die Gemeinschaft der Heiligen im Jenseits eng miteinander verbinden.
Nach der Ankunft der Heiligen in Utah wurden Siegelungen zur Adoption oder auch die Siegelung eines Kindes an seine Eltern erst wieder nach der Weihung des St.-George-Tempels im Jahr 1877 vollzogen. Zum damaligen Zeitpunkt wollten wiederum viele Heilige zur Adoption an die Familie eines Apostels oder eines anderen Führers der Kirche gesiegelt werden. Eigentlich war es in der Kirche sogar üblich, eine Frau nicht an einen Mann zu siegeln, der das Evangelium zu Lebzeiten nicht angenommen hatte. Das bedeutete, dass eine verwitwete Heilige der Letzten Tage damals nicht an ihren verstorbenen Mann gesiegelt werden konnte, wenn sich dieser nicht der Kirche angeschlossen hatte. Dieser Umstand war für die betroffenen Frauen manchmal nur schwer zu ertragen.20
Die Siegelungen zur Adoption bereiteten George schon seit Jahren Kopfzerbrechen. Als junger Mann war er in Nauvoo zur Adoption an die Familie seines Onkels John Taylor gesiegelt worden, obwohl seine Eltern treue Mitglieder der Kirche gewesen waren. Auch andere Mitglieder wollten sich lieber an einen Apostel siegeln lassen statt an die eigenen Eltern, selbst wenn diese treue Heilige der Letzten Tage waren. George fand nun, diese Praxis habe unter den Heiligen zu einer gewissen Cliquenbildung geführt. 1890 hoben er und seine Geschwister die Siegelung an Familie Taylor auf und wurden im St.-George-Tempel an ihre eigenen verstorbenen Eltern gesiegelt, wodurch die natürliche Verbundenheit der Familie bekräftigt wurde.21
Als die Erste Präsidentschaft den Fall von Lorenzos Familie besprach, kam George mit einem Lösungsvorschlag: „Warum nicht den Vater und seine Brüder an den Großvater siegeln lassen“, fragte er, „und dann den Großvater und dessen Geschwister an deren Eltern – so weit zurück wie eben irgend möglich?“
Wilford Woodruff und Joseph F. Smith konnten diesem Vorschlag offensichtlich etwas abgewinnen. Beide Männer hegten ihre Bedenken gegen die Siegelungen zur Adoption, doch Präsident Woodruff konnte sich noch nicht zu einer Änderung dieses Brauchs durchringen. George hegte insgeheim die Hoffnung, der Herr werde in Kürze seinen Willen zu diesem Thema offenbaren.22
„Tatsache ist, dass über diese Lehre der Adoption nicht viel bekannt ist“, schrieb George in sein Tagebuch. „Wir sollten aber darüber Bescheid wissen, und ich gehe davon aus, dass der Herr uns in seiner Güte Erkenntnis schenken wird.“23
Albert Jarman, der Sohn des lautstärksten Kritikers der Kirche in England, war keineswegs Opfer eines grausigen Mordes geworden. Im Frühjahr 1894 ging er nach Großbritannien auf Mission, und seine Anwesenheit dort war Beweis genug dafür, dass sein Vater nicht die Wahrheit gesagt hatte.24
Albert wollte seinen Vater gleich nach seiner Ankunft im Missionsfeld zur Rede stellen. Doch dem Missionspräsidenten Anthon Lund war bewusst, dass sich Albert beileibe noch nicht mit jemandem messen konnte, der derart trickreich und verschlagen war. Er schickte den jungen Mann stattdessen zunächst nach London und ermunterte ihn, sich mit dem Evangelium zu befassen und sich für die Angriffe seitens seines Vaters zu wappnen. In der Zwischenzeit solle er ihm doch, so riet Präsident Lund, „einen freundlichen Brief schreiben“.25
Sobald sich Albert in London niedergelassen hatte, schrieb er an seinen Vater: „Mein lieber Vater“, begann er, „ich hoffe inständig und bete darum, dass du alsbald einsiehst, welch ein Fehler es war, den Leuten zu erzählen, die Mormonen hätten deinen Sohn ermordet.
Du bist nun nicht mehr der Jüngste, und es schmerzt mich sehr, wenn ich lese oder höre, wie die Leute das wiederholen, was du behauptet hast“, fuhr er fort. „Es wäre schön für mich, einem reuigen Vater die Hand zur Versöhnung zu reichen, und ich wäre stolz darauf, wieder zu dir zu stehen und dich achten zu dürfen.“26
Albert wartete auf das Antwortschreiben seines Vaters und predigte und lehrte währenddessen in London. „Ich studiere nach bestem Wissen und Gewissen“, teilte er seiner Mutter, Maria Barnes, mit. „Ich bin noch kein guter Prediger, aber hoffentlich werde ich einer, ehe ich nach Hause komme.“
Bald darauf kam ein kurzer Antwortbrief seines Vaters: „Du solltest mich besser besuchen“, schrieb ihm William. „Ich freue mich jedenfalls, dich zu sehen.“
Maria wusste ja, wie gewalttätig William sein konnte, und war in Sorge um ihren Sohn. Doch Albert beruhigte sie und schrieb, sein Vater könne ihm gar nichts anhaben. „Es wird ihm nicht möglich sein“, versicherte ihr Albert. Vor allem wollte er in England das Gespräch mit William und weiteren Verwandten suchen.
„So Gott will, möchte ich ihnen gern Zeugnis geben“, schrieb er.27
Als Wilford Woodruff wieder in Salt Lake City war, eröffnete er seinen Ratgebern sowie dem Kollegium der Zwölf Apostel, dass er eine Offenbarung erhalten habe, was die Siegelungen zur Adoption betraf. „Ich habe das Gefühl, wir sind in Hinblick auf einige Tempelverordnungen allzu streng“, erklärte er im April 1894 am Vorabend der Generalkonferenz. „Das gilt vor allem in Bezug auf den Ehemann oder bereits verstorbene Eltern.
Der Herr hat mir gesagt, dass es richtig ist, dass Kinder an ihre Eltern gesiegelt werden und diese wiederum an deren Eltern – so weit zurück, wie wir eben mit unseren Aufzeichnungen kommen können“, fuhr er fort. „Und es ist auch richtig, dass eine Frau, deren Mann nie vom Evangelium gehört hat, an ebendiesen Mann gesiegelt wird.“
Präsident Woodruff ging davon aus, dass es über die heiligen Handlungen des Tempels noch viel zu lernen gäbe. „Gott wird es uns wissen lassen“, versicherte er ihnen, „so wir denn bereit sind, es zu empfangen.“28
Bei der Generalkonferenz am Sonntag bat Präsident Woodruff dann George Q. Cannon, aus dem Buch Lehre und Bündnisse einige Verse aus Abschnitt 128 vorzulesen. In diesem Abschnitt sprach Joseph Smith davon, dass Elija in den Letzten Tagen das Herz der Väter den Kindern und das Herz der Kinder ihren Vätern zuwenden werde. „Die Erde wird mit einem Fluch geschlagen“, hatte der Prophet Joseph erklärt, „wenn es nicht irgendeine Art von Bindeglied zwischen den Vätern und den Kindern gibt.“29
Anschließend trat nochmals Präsident Woodruff ans Pult. „Wir sind noch nicht am Ende der Offenbarungen angelangt“, erklärte er. „Wir sind noch nicht am Ende des Werkes Gottes angelangt.“ Er sprach davon, wie Brigham Young das Werk, das Joseph Smith begonnen hatte, fortgeführt habe, nämlich Tempel zu erbauen und darin heilige Handlungen zu vollziehen. „Und dennoch hat Brigham Young nicht alle Offenbarungen erhalten, die zu diesem Werk gehören“, ließ Präsident Woodruff die Versammelten wissen, „genauso wenig wie Präsident Taylor oder Wilford Woodruff. Dieses Werk wird erst dann ein Ende haben, wenn es gänzlich vollendet ist.“
Nachdem Präsident Woodruff festgestellt hatte, dass die Heiligen nach all dem Licht und der Erkenntnis gehandelt hätten, die sie erhalten hatten, erklärte er, er und weitere Führer der Kirche seien schon lange der Ansicht, dass der Herr noch mehr über die Tempelarbeit zu offenbaren habe. „Wir möchten, dass die Heiligen der Letzten Tage von jetzt an ihre Abstammung so weit wie möglich zurückverfolgen und sich an Vater und Mutter siegeln lassen“, stellte er fest. „Siegelt die Kinder an ihre Eltern und schließt die Kette so weit, wie es euch möglich ist.“
Er kündigte auch ein Ende der Richtlinie an, dass eine Frau nicht an ihren Ehemann gesiegelt werden könne, wenn dieser verstorben sei, ohne das Evangelium angenommen zu haben. „Manch einer Frau blutet deswegen das Herz“, sagte er. „Wieso eine Frau daran hindern, an ihren Mann gesiegelt zu werden, nur weil dieser nie das Evangelium gehört hat? Was weiß denn irgendeiner schon über ihn? Kann er nicht das Evangelium in der Geisterwelt hören und annehmen?“
Er erinnerte die Heiligen an die Vision, die Joseph Smith im Kirtland-Tempel von seinem Bruder Alvin gehabt hatte. „Alle, die gestorben sind, ohne von diesem Evangelium zu wissen, die es aber angenommen hätten, wenn sie hätten verweilen dürfen“, so hatte der Herr verkündet, „werden Erben des celestialen Reiches Gottes sein.“
„So wird es auch mit euren Vätern sein“, sagte Präsident Woodruff über diejenigen in der Geisterwelt. „Es wird, wenn überhaupt, nur sehr wenige geben, die das Evangelium nicht annehmen.“
Am Ende seiner Predigt forderte er die Heiligen auf, seine Worte zu beherzigen und nach ihren verstorbenen Verwandten zu suchen. „Brüder und Schwestern“, so sagte er, „arbeiten wir weiter an unseren Aufzeichnungen, führen wir sie in Rechtschaffenheit vor dem Herrn, und setzen wir diesen Grundsatz in die Tat um, dann werden die Segnungen Gottes auf uns ruhen und diejenigen, die erlöst worden sind, werden uns eines künftigen Tages preisen.“30